: Wehrflüchtlinge müssen zahlen und dienen
■ Stoltenbergs Rache an Wehrflüchtlingen: Altfälle müssen zum Bund/ Bußgeld von 600 Mark für jeden
Berlin (taz) — Verteidigungsminister Stoltenberg läuft an der Heimatfront zu großer Form auf: Die 50.000 Berliner Wehrflüchtlinge (15.000 davon sind akut betroffen) müssen neben ihrer Einberufung bis zum 32. Lebensjahr auch noch mit einem Bußgeld von bis zu 1.000 Mark rechnen. Wie Sprecher der Hardthöhe gestern erklärten, hätten die Wehrflüchtlinge, die in den vergangenen Jahren den entmilitarisierten Status der Stadt ausnutzten, gegen das Wehrpflichtgesetz verstoßen. Sie seien überwiegend ohne Erlaubnis der Wehrbehörden nach Berlin umgezogen — dies sei eine Ordnungswidrigkeit.
Allerdings wurde einschränkend verkündet, daß man den Bußgeldrahmen nicht in allen Fällen voll ausschöpfen werde. In der Regel wolle man 600 Mark Buße verhängen. Auch sei bei über 30jährigen Männern die Ordnungswidrigkeit „vermutlich“ verjährt.
Wie die taz bereits berichtete, hatte das Bundesverteidigungsministerium schon 14 Tage nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten die Wehrbehörden angewiesen, die Berliner Wehrflüchtlinge bis zur Altersgrenze von 32 zu ziehen. Dies geschah per Hardthöhen-Erlaß zunächst über die Kreiswehrersatzämter (KWEAs) in Westdeutschland, weil die Wehrbehörden in Berlin, zwei KWEAs in den östlichen Stadtteilen Lichtenberg und Pankow, sich noch im Aufbau befinden. Und so flatterten dann auch Tausende Einberufungsbescheide in die Briefkästen der Wehrflüchtlinge, die für Bundeswehrverhältnisse eigentlich im Rentenalter sind — denn die Bundeswehr zieht in der Regel nur bis zum 25. Lebensjahr ein. Darunter ist auch als Extremfall ein 31jährigen Sinologe, der am 2. Januar 1991 — exakt sechs Stunden vor seinem 32. Geburtstag — beim Sanitätsbataillon 11 in Leer/Ostfriesland einrücken sollte. Allerdings merkten die rachedurstigen Behörden bald, daß sie zu vorschnell waren: Der Mann ist seit Jahren als Kriegsdienstverweigerer anerkannt und wird zivil dienen müssen.
Die schnelle Abwicklung über die westdeutschen KWEAs mußte allerdings in der vergangenen Woche von der Hardthöhe gestoppt werden. Die „Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer“ in Bremen und die „Kampagne gegen die Wehrpflicht“ in Berlin hatten darauf verwiesen, daß die westdeutschen KWEAs nach gängiger Rechtsauffassung und den Meldegesetzen rechtlich gar nicht zuständig sind. Ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 1985 habe dies bestätigt. Für die Wehrflüchtlinge seien die Wehrbehörden am ersten Wohnsitz der Betroffenen zuständig — somit könne gegen die Einberufungsbescheide Widerspruch eingelegt werden. Nach einigen Tagen hatte das Verteidigungsministerium seinen Fehler eingesehen. Es wies die westdeutschen KWEAs an, die nach Berlin ergangenen Einberufungen zurückzunehmen und die Akten den Berliner KWEAs zuzusenden. Nun wird mit Zeitverzögerung von dort aus einberufen. kotte
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