piwik no script img

Archiv-Artikel

Was universal ist, kann nicht relativ sein

MULTIKULTI Kulturelle Identität ist kein Kriterium, das per se emanzipatorisch ist

Dem traditionellen Antiimperialismus hält die Autorin die universellen Menschenrechte entgegen

VON WOLF-DIETER VOGEL

Ist der Kampf gegen patriarchale Gewalt rechts oder rassistisch, wenn er sich gegen die Tradition nichteuropäischer Kulturen richtet? Geht Religionsfreiheit zusammen mit radikaler Religionskritik? Und wer verteidigt dann eigentlich das Menschenrecht? In der Debatte um die multikulturelle Gesellschaft scheint keine Zuschreibung mehr zu taugen. Die Psychologieprofessorin Birgit Rommelspacher bemängelte in der taz, dass die „selbstverständliche Affirmität zwischen Linken und Feministinnen“ verloren gegangen sei, der Publizist Henryk M. Broder kam angesichts von gewalttätigen Angriffen auf Islamkritiker zu dem frustrierenden Schluss: „Toleranz hilft nur den Rücksichtslosen.“

„Der Kern dieser Problematik liegt schon in der Begründung des Kulturrelativismus im ausgehenden 19. Jahrhundert“, erklärt die Kulturwissenschaftlerin Imke Leicht in ihrem Buch „Multikulturalismus auf dem Prüfstand“. Die Autorin geht dem Widerspruch zwischen Universalismus und Kulturrelativismus auf seinen historischen Grund: Muss es universelle, für die gesamte Menschheit geltende Normen geben oder sind jeweils spezifische Kulturen die einzige Legitimationsquelle für rechtliche und moralische Prinzipien? Eine Frage, die auch in der Menschenrechtsdebatte eine wichtige Rolle spielt. So etwa, wenn es um die Einmischung westlicher Mächte in „andere Kulturen“ geht.

Erneut eingesperrt

Es ist naheliegend, dass vor allem linke und andere Antiimperialisten bis heute den kulturellen Relativismus verteidigen. Dieser wurde zunächst als Abgrenzung zum rassistischen und ethnozentristischen Denken der Kolonialzeit entworfen. Gegen die Evolutionisten, die die westeuropäische Zivilisation als die am weitesten entwickelte betrachteten, setzte der Ethnologe Franz Boas Ende des 19. Jahrhunderts seine antikoloniale Theorie: Jede Kultur hat ihre spezifische Wurzeln und ist unabhängig von anderen entstanden. Als grundlegende Idee des Kulturrelativismus vertrat Boas absolute Toleranz gegenüber fremden Kulturen.

In dessen Folge und unter dem Eindruck des Nationalsozialismus entstand die Forderung nach Anerkennung von kultureller Identität und Differenz sowie „nationaler Souveränität der Völker“. Den wohl prägnantesten Ausdruck erhielt diese Theorie mit dem Anthropologen und Ethnologen Claude Lévi-Strauss. Er setzte sich dafür ein, „in einer von Monotonie und Uniformität bedrohten Welt die Verschiedenheit der Kulturen zu erhalten“.

Seine Thesen erlangten große Bedeutung für antikoloniale Kämpfe, dennoch wurden sie von vielen Theoretikern kritisiert. So etwa von Alain Finkielkraut. Wo der Begriff der kulturellen Identität zum Sinnbild von Unabhängigkeit und die Betonung der Verschiedenheit zum Stolz über die eigene Wesensart werde, würden die Kolonisierten erneut eingesperrt: diesmal in einer kollektiven Identität als aufgezwungener Homogenität, so der französische Philosoph.

Imke Leicht zeigt auf, wie sich aus der Ablehnung des US-geprägten „Melting Pot“ der Multikulturalismus entwickelte. Gegen ein Zusammenschmelzen, das de facto die Akzeptanz einer „vermeintlich US-amerikanischen Identität“ bedeutet habe, sei in den 1960er Jahren in den USA aus sozialen Bewegungen und der Black Community ein „ethnic revival“ entstanden. Die daraus weltweit weiter entwickelte Multikultidebatte verfolgt die Autorin bis in die heutige Zeit hinein. Vertreter eines liberalen Multikulturalismus kommen ebenso zu Wort wie radikale Kritiker. Nicht zuletzt beschäftigt sie sich mit Ayaan Hirsi Ali, Necla Kelek und Seyran Ates. Deren radikale Kritik an den romantisierenden Wunschvorstellungen des Multikulturalismus provozierte schließlich traditionelle Linke, Feministinnen und Migrationsforscher.

Leicht enthält sich aufgeregter Polemiken, ohne auf eine kritische Einordnung der verschiedenen Ansätze zu verzichten. Ohne den Rassismus der Mehrheitsgesellschaft außer Acht zu lassen, erteilt sie Versuchen eine Abfuhr, durch eine alleinige Fokussierung auf dieses Problem vor einer Kritik am frauenfeindlichen, reaktionären Traditionalismus mancher migrantischer Milieus zurückzuweichen. Diese Strukturen würden häufig als pure Reaktion auf Ausgrenzung entschuldigt, dabei seien „die Identitäten von Migrantinnen und Migranten noch lange kein Ausweis für eine ausschließliche Opferrolle oder gar emanzipatorische Gesinnung“.

Universelle Rechte

Nicht zufällig bringt die Autorin die Menschenrechte ins Spiel. Schließlich zählt zu den kritikwürdigsten Spielarten kulturrelativistischer Ideologien, dass sie mit ihrer Romantisierung traditioneller Kulturen und der Verteidigung „nationaler Souveränität“ die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschriebenen Regeln aushebeln. Wie in der Multikultidebatte werden autoritäre oder frauenfeindliche Verhältnisse hingenommen, um nicht imperialistischen Aggressionen Vorschub zu leisten.

Gegen solche meist von traditionellen Antiimperialisten eingenommene Haltungen bringt Leicht ein universelles Menschenrechtsverständnis in Anschlag, wie es von dem Philosophen Heiner Bielefeldt vertreten wird. Bielefeldt negiert den Vorwurf, die Menschenrechte seien eurozentrisch definiert. Sie seien eine Reaktion auf Unrechtserfahrung sowie politische und soziale Missstände. Subjekte menschenrechtlicher Anerkennung seien weder Kulturen oder Religionen, sondern die Menschen, „die solche kulturellen Traditionen tragen oder auch nicht mehr tragen wollen und die ihre je eigenen Identitäten ausbilden“.

Hinter diesen Ansatz sollte die Debatte nicht zurückfallen. In rassistischer Verallgemeinerung von „den Muslimen“ zu reden wird dann ebenso wenig möglich sein wie die Rechtfertigung von Menschenrechtsverbrechen im Namen kultureller Traditionen oder nationaler Souveränität.

Imke Leicht: „Multikulturalismus auf dem Prüfstand“. Metropol, Berlin 2009, 208 Seiten, 19 Euro