Was tun gegen die Erderwärmung: Zehn Gebote gegen Klimasünden

Extinction Rebellion hat Recht: die Erderwärmung ist besorgniserregend, Endzeitstimmung ist angesagt. Aber wer ist der Adressat des Jüngsten Gerichts?

Demonstranten in roten Gewändern

Extinction Rebellion am 11. Oktober in London Foto: Peter Nicholls/reuters

Berlin: In wallende rote Gewänder gekleidet schreiten schweigende Gestalten durch die Straßen. Einige von ihnen tragen rote Fahnen, auf ihnen eine stilisierte Sanduhr. Hamburg: Über die neue Promenade ergießt sich rotes Kunstblut, inmitten der Lake ein weißer Sarg, ebenfalls mit einer Sanduhr versehen. Nein, wir sind nicht versehentlich in der Karwoche in Sevilla gelandet, bei der Hunderte in violetten Büßergewändern durch die Stadt prozessieren und um die Vergebung ihrer Sünden bitten. Es handelt sich um Protestformen der Gruppe Extinction Rebellion (XR), die unter anderem Anfang Oktober einige Straßenblockaden in Berlin organisiert hat, um auf das globale Artensterben aufmerksam zu machen.

Nichtsdestotrotz ist der Vergleich mit Büßerprozessionen nicht ganz weit hergeholt. XR bemüht die martialische Bildwelt gern, zum Beispiel, wenn Galgen aufgestellt werden, unter denen Demonstranten auf schmelzenden Eisblöcken stehen. So weit, so mittelalterlich. Mit dem Unterschied, dass das Ganze in High-Quality-Videoclips voller hoch emotionalisierter Affektbilder auf Instagram zu sehen ist. Der Social-Media-Auftritt? Maximal professionell. Die Bildsprache? Maximal messianisch-religiös. Die Inhalte? Ihr werdet alle sterben.

Es kann sein, dass vor Ort alles sehr nett ist, es kann sein, dass die Initiative noch jung ist und sich erst finden muss. Aber es darf gefragt werden, wohin sie steuert.

Bei XR kann jeder mitmachen, der sich einem Konsens von 10 Geboten verpflichtet, unter anderem dem Gebot der „Gewaltfreiheit“. Welchen Gewaltbegriff XR hat, bleibt dabei schleierhaft. Parolen wie „The day of reckoning will come“ oder „Stand with the earth“ erinnern an die biblische – sehr gewaltvolle – Apokalypse des Johannes. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich, und der Tag des Jüngsten Gerichts wird kommen. Die Sanduhr läuft ab, und zwar zwingend. Damit inszenieren sich die Aktivisten als Propheten eines nahenden Endes der Welt. Die Natur ist Gott, und ihr muss man sich beugen.

Mutter-Erde-Metaphern

Die Rebellion gegen das Artensterben mag ehrenhaft sein. Sie gleitet allerdings mitunter ins Esoterische ab. Bei den Blockaden in Berlin gibt es die Möglichkeit, für die Erde zu meditieren. Alte Mutter-Erde-Metaphern treten an die Stelle eines kritischen Feminismus, der uns vor allem eines gelehrt hat: Was Natur ist, ist menschliche Kons­truk­tion. Welche Natur will XR schützen? Rebellion gegen das Artensterben um ihrer selbst willen? Oder Rebellion gegen das Artensterben, weil die Lebensgrundlage des Menschen vernichtet wird?

Dass der Mensch die Natur in Ansätzen beherrschen gelernt hat, ist ein Fortschritt, hinter den eine progressive Bewegung nicht zurückfallen sollte. Und ohne technischen Fortschritt ist die gerechte, klimafreundliche und ausbeutungsfreie Gesellschaft auch nicht zu denken. Wer das infrage stellt, sehnt einen Steinzeitkommunismus herbei, in dem wir uns wieder selbstversorgend vom Schweiß des Ackers ernähren und eine Lebenserwartung von knapp vierzig Jahren haben, Säuglingssterblichkeit inklusive. In manchen Teilen der Umweltbewegung wirkt es, als seien der technische Fortschritt und der Mensch an sich das Problem, da sie das Artensterben verursachen würden. Hier muss letztlich der emanzipierte Mensch unsichtbar werden, er muss verschwinden, so wie die sündigen Büßer unter ihren Gewändern.

Ja, die Erderwärmung ist besorgniserregend, Endzeitstimmung scheint angebracht. Aber wer ist der Adressat des Jüngsten Gerichts? Die Bilder, die die Anti-Kohlekraft-Bewegung Ende Gelände produziert, scheinen ebenfalls der Apokalypse zu entstammen: Aktivisten in weißen Anzügen schlittern durch sandige Wüsten, über ihnen bäumen sich gigantische Kohlebagger auf, umringt von Robotercops. Das ist die Realität 2019, auf die Ende Gelände den medialen Fokus richtet: Eine Marslandschaft, geopfert dem Konzernprofit. Ende Gelände legt den Finger in die Wunde und adressiert einen sorgfältig abgeschirmten konkreten Akteur der Klimakrise: RWE. Der Kampf um Klimaschutz ist kein individueller Ablasshandel. So erscheint er aber oft bei Gruppen wie XR.

Der einzelne Mensch an sich ist nicht der Hauptverursacher der Klimakrise. Anders gefragt: Wo soll eine Hartz-IV-Mama den Gürtel noch enger schnallen? Wie soll der Pendler in die Stadt, um Lohn zu erarbeiten, wenn der ÖPNV so miserabel ist? Die Verzichtslogik bei Umweltgruppen wie XR kommt im Büßergewand daher, und das passt auch zur Inszenierung der Proteste.

„Sagt die Wahrheit“

Die Aktivisten weisen zwar darauf hin, dass der Kollaps von Ökosystemen auch das Aussterben des Menschen zur Folge haben wird. Die Klimakrise wird aber nicht gelöst werden, wenn man so tut, als seien alle Menschen in gleicher Weise „Klimasünder“ und müssten einfach nur Abbitte leisten. Die Klimakrise wird nicht überwunden werden, wenn Wirtschaft und Verteilung des Reichtums unangetastet bleiben. Das gehört zur Wahrheit, und „Sagt die Wahrheit“ ist schließlich eine der drei Kernforderungen von XR.

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Eine weitere Forderung ist der Vorschlag, direktdemokratische Bürgerversammlungen in die parlamentarische Demokratie einzubetten. Partizipative Demokratie würde in solchen Versammlungen simuliert werden, wirklich zu entscheiden gäbe es nichts, denn die Versammlungen wären verfassungstechnisch nicht angekoppelt an das System der parlamentarischen Demokratie. Sie würden vermutlich als inszenatorisches Feigenblatt von etablierten politischen Funktionsträger benutzt, sich besonders bürgernah zu geben.

Außerdem stellt sich die Frage, wer denn wahrscheinlich zu den Bürgerversammlungen gehen würde, die sich XR ausmalt. Statistisch ist belegt, dass die Unterschicht einerseits im Parlament qualitativ schlechter repräsentiert ist und andererseits Partizipationsangebote seltener wahrnimmt als die Mittel- und Oberschicht. Die Nichtpräsenz der Unterschichten auf der politischen Bühne würde sich also noch mal verstärken, wenn man politisches Geschehen in simulative Partizipationsspielwiesen verlagert.

Grundsätzlich betrachtet geht die Frage nach der Entscheidungsgewalt aber in die richtige Richtung. Wer entscheidet? Wer entscheidet über Wirtschaftsprozesse? Wie kann es gelingen, dass die Wähler gewählte Abgeordnete während ihrer Amts­zeiten weiterhin kontrollieren? Wie kann demokratisiert werden abseits eines einmaligen Wahlgangs alle vier bis fünf Jahre?

Eklatantes Versagen

Vor diesem demokratiepolitischen Hintergrund ist das Vertrauen von Gruppen wie XR in Autoritäten allerdings mehr als erstaunlich. In den vergangenen Legislaturen war die Klimapolitik der Regierungen von eklatantem politischen Versagen geprägt. Zum Beispiel wurden in den vergangenen Jahren zehntausende Stellen im Bereich Windkraft abgebaut, gleichzeitig wird die Kohle krampfhaft gehalten, trotz endender Laufzeiten. Von einem visionären Programm der Regierungsparteien, wie Arbeiter aus der Kohleförderung ihre Arbeitsplätze an anderer Stelle wiedergewinnen können, ist nichts in Sicht. Dies würde massive Investitionen verlangen, Finanzminister Olaf Scholz hält derweil krampfhaft an der schwarzen Null fest.

Wenn wir die Klimakrise zugunsten einer besseren, gerechteren Gesellschaft überwinden wollen, müssen wir über Wirtschaft sprechen – und über Demokratie.

Eine visionäre wirtschaftspolitische Strategie zu entwickeln, ist nicht die Aufgabe von Aktivisten bei XR oder Ende Gelände. Es ist zuvörderst Aufgabe gewählter und damit beauftragter Volksvertreter und ihres Expertenstabs. Aber die Aktivisten senden entsprechende Zeichen aus der Zivilgesellschaft – und benennen dadurch Pro­ble­me. Ende Gelände legt die Kohlebagger im Rheinischen Braunkohlerevier lahm, plötzlich sind Bilder in den Medien, die das ganze Ausmaß der profitorientierten Naturzerstörung und das politische Versagen in diesem Bereich zeigen. XR blockiert zentrale Verkehrsknotenpunkte in Berlin und zeigt damit – ja, was? Dass der Pendler ein Klimasünder ist und für das Artensterben verantwortlich? Was ist dann die politische Forderung? Für wen wird hier eigentlich Partei ergriffen?

XR inszeniert sich unparteiisch, quasi religiös der ablaufenden Sanduhr verpflichtet. Wer gegen den Klimawandel ankämpft, muss aber zwingend parteiisch sein: Der Klimawandel trifft die Ärmeren zuerst und am härtesten. Die haben ihn aber gar nicht hervorgebracht. Die Endzeitstimmung, die XR durch ihre Inszenierung hervorruft, die auf den Menschen als Sünder abzielt, ist damit antiaufklärerisch. Statt religiös angehauchter Apokalypse brauchen wir dringend eine ermutigende Vision einer zukünftigen Gesellschaft. In dieser künftigen Welt wäre der exzessive Raubbau an der Natur beendet, technischer Fortschritt würde der Mehrheit zugute kommen und die Produktion wäre demokratisch kontrolliert. Im Zen­trum einer solchen Erzählung von Gerechtigkeit kann aber nur einer stehen: der Mensch, der diese Welt schafft.

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machte 2019 ihren Master an der Hildes­heimer Fakultät für Kulturwissenschaften und Ästhetische Kommunikation. Von 2017 bis 2019 war sie im Vorstand des Sozialistisch-Demokratischen Studierendenverbands (SDS)

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