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Archiv-Artikel

Was ist die Schweiz?

SCHLAGLOCH VON KERSTIN DECKER DIE SCHWEIZER HATTEN ES NIE SO MIT MORAL UND LOGIK. JETZT ZEIGEN SIE NERVEN

Kerstin Decker

■ ist freie Autorin und lebt in Berlin. Von ihr stammt unter anderem die Else-Lasker-Schüler-Biografie „Mein Herz – Niemandem“ (Propyläen Verlag).

Hätten wir nur auf Muammar al-Gaddafi gehört! Wie viel Aufregung, Ärger und Zeitungsseiten der letzten Wochen hätten wir uns sparen können. Libyen hat für ein Jahr den Vorsitz der UN-Vollversammlung inne. Die begann bereits am 15. September, und der Vorsitzende fiel sogleich durch einen eigenen Vorschlag auf, formuliert und vorgestellt in einem Traktandum: Lösen wir die Schweiz auf!

Mag sein, auch Roman Polanski hat inzwischen in seinem Schweizer Hausarrest öfter über die eigentümliche Weisheit fremder Revolutionsführer nachgedacht. Und Gaddafi meinte es doch keineswegs eigennützig. Er will die UN-Vollversammlung gar nicht über einen Anschluss der Schweiz an Libyen beraten lassen. Er will auch keineswegs alle Schweizer Kirchen abreißen lassen, um aus ihnen nach dem frühen Vorbild der Hagia Sophia Moscheen zu machen. Die Großkirche der östlichen Christenheit bekam einst vier Minarette, eins an jeder Ecke, bis sie sich wohl selbst sagen musste: Ich bin keine Kirche, ich bin eine Moschee!

Weiß eigentlich jemand, wie viele Minarette in den christlichen Schweizer Himmel stechen? Vier. Die Schweiz hat so viele Minarette wie die Hagia Sophia. Und nun wird in der alpenländischen Verfassung stehen, dass fünf Minarette das Ende der Schweiz bedeuten würden, sinngemäß. Wollte Muammar al-Gaddafi gar die Schweiz vor sich selbst beschützen, als er versicherte, sie gar nicht selbst behalten, sondern nur gerecht an die Nachbarländer verteilen lassen zu wollen?

Natürlich weiß man bei einem Revolutionsführer nie, wo die Revolution aufhört. Gaddafis Sohn heißt Hannibal. Wer strafte sein Kind mit einem solchen Namen, wenn ihm nicht vor den freudefeuchten Augen stünde, wie dieser frühe Feind aller Schweizer einst siegreich mit seinen Elefanten über die Alpen zog? Das hat Hannibal Gaddafi vor einem Jahr auch getan. Statt Elefanten hat er Dienstboten mitgenommen. Bis nach Genf ist er gekommen, genauer bis ins Hotel President Wilson. Hannibal muss seine Dienstboten übler zugerichtet haben als der Namensvorfahr einst seine Elefanten, so dass die eidgenössische Polizei schließlich mit zwanzig Beamten ins Hotel vorrückte. „Wir sind hier in der Schweiz!“, mögen sie zur Begründung der Festnahme erklärt haben. „Das wollen wir doch mal sehen!“, antwortete nun der Papa.

Und dann im September die Verhaftung Polanskis am Flughafen. Wir sind hier in der Schweiz? Höchste Zeit zu fragen: Wo sind wir, wenn wir in der Schweiz sind? Früher war das ganz klar. Eine Frau etwa war am Ende des 19. Jahrhunderts in Zürich, um dort zu studieren. Wo sonst in Europa durfte sie das? Und wo hätten Europas Anarchisten sich getroffen, wenn es die Schweiz nicht gegeben hätte? Auch die europäische Avantgarde steht auf immer in Schweizer Schuld. Kein Dada ohne die Schweiz! Und erst die Weltrevolution. Wo hätte Lenin endgültig Lenin werden sollen, wenn nicht in der Schweiz? Wo hätte er beim Nachbarn über den Zaun blicken und herausfinden dürfen, dass Sozialismus ganz einfach ist. Man braucht das Zarenreich nur zu organisieren wie die Deutsche Reichspost! Die Sowjetunion, ein megalomanes Postamt. Die Mentalität der dortigen Völker hat dann doch nicht ganz der des durchschnittlichen deutschen Postbeamten entsprochen, und trotzdem: Der europäische Fortschritt brauchte dieses Land.

Allen Spleens der Nachbarn Raum geben, sie irgendwann nach Hause zurückschicken und immer das Bankgeheimnis wahren! So funktionierte die Schweiz. Das war die Formel ihres Erfolgs. Moralisten oder große Logiker waren die Schweizer nie. Warum sollen Frauen wählen dürfen, nur weil sie studieren dürfen? Solche Fragen – vor allem, wenn sie gar nicht erst gestellt werden – offenbaren ein intaktes Immunsystem. Und das ist jetzt angegriffen. Das Land zeigt etwas, von dessen Existenz es bis vor kurzem wohl selbst gar nicht wusste: Nerven. Es sind nun wirklich nicht nur die vier Minarette. Gleich nach den Minaretten kommen die Deutschen. Gibt es eigentlich einen Deutschen, der noch nicht darüber nachgedacht hätte, in die Schweiz auszuwandern? Dabei steht so viel Trennendes steht zwischen beiden Ländern, von der Sprache gar nicht zu reden. Viel wichtiger als das Reden ist das Schweigen, um sich zu verstehen. Die Deutschen machen keine Pause zwischen den Sätzen. Wenn sie sich irgendwo vorstellen, sagen sie schon im zweiten Satz, was sie wollen, obwohl noch gar kein „Joaaa?“ sie dazu ermutigt hat. Sie kommen ganz ohne Ermutigung aus. Das ist so entmutigend. Daran erkennt man die Barbarei.

Und niemand weiß nun, was aus den beiden Schweizern werden soll, die Gaddafi in Libyen verhaften ließ, wahrscheinlich konnte er nur diese zwei auftreiben. Er hatte zwar sofort nach der Verhaftung seines Sohnes die libyschen Erdöllieferungen in die Schweiz eingestellt, aber das wirkte so unpersönlich. Gestern soll der zweite Prozess gegen die beiden Schweizer begonnen haben, wegen „illegaler wirtschaftlicher Aktivitäten“. Vielleicht hätte man Hannibal Gaddafi nicht gleich ins Gefängnis stecken, sondern nur nach Hause schicken sollen. Dann hätte sein Vater wahrscheinlich bloß die Erdöllieferungen eingestellt. Der Schweizer Bundespräsident entschuldigte sich schon persönlich und schriftlich für die „ungerechtfertigte und unnötige“ Verhaftung. Aber es hat nichts genutzt.

Alle Spleens der Nachbarn ertragen und immer das Bankgeheimnis wahren: Das war die Formel für den Erfolg der Schweiz

Der Schweizer Bundespräsident sollte sich lieber bei Roman Polanski entschuldigen! Zu erklären ist dessen Verhaftung ohnehin nur als Selbstmissverständnis der Schweiz. Allen Spleens der anderen Raum zu geben? Aber das heißt doch gerade nicht, sich zum Erfüllungsgehilfen der eigentümlichsten Eigentümlichkeiten der amerikanischen Rechtsprechung zu machen! Noch dazu in einem über dreißig Jahre alten „Vergewaltigungs“-Fall, in dem „Täter“ und „Opfer“ längst versöhnt sind, die finanzielle Versöhnung unbedingt eingeschlossen.

Nein, Roman Polanski hat es nicht gut in diesen Tagen. Wenigstens ist er kein Deutscher. Was wird er tun über Weihnachten in seiner Schweizer Hausarresteinsamkeit, wenn der Bundespräsident doch nicht kommt? Raus darf er nicht. Aber er könnte in seinem Garten ein schönes hohes Minarett bauen. Das fünfte der Schweiz.