: Was fehlt ist Empörung und Wut
betr.: „Eine deutsche Kindheit“, taz vom 2. 8. 00
[...] Tatsächlich hat die Wahl des Wohnortes einen entscheidenden Einfluss auf die Lebensqualität und Freiheit aller Menschen mit einem anderen kulturellen oder mit einem interkulturellen Lebenshintergrund gewonnen. Aber selbst für eine Frau, die ein liberales Wohnumfeld gewählt hat, bedeutet die Stimmung im Lande zurzeit Folgendes:
Sie hat ein noch viel tiefgreifenderes und weitreichenderes System aus Sicherheits-, Vorsichts- und Vermeidungshandlungen in ihr Alltagsleben integriert als beschrieben und als für Eltern von weißen Kindern vorstellbar, sie vollführt täglich einen Balanceakt zwischen Schutz und Stärkung ihrer Kinder, der so viel Wissen, Reflexion und Energie erfordert, als würde sie ein pädagogisches Seminar leiten.
Sie muss ständig auf der Hut sein und eventuellen verbalen und tätlichen Übergriffen, mit geringstem oder ohne Anlass, zuvorkommen, sie rechnet entsprechend ihren Erfahrungen nach jedem publik gewordenen, gewalttätigen Übergriff auf ausländische Mitbürger mit in diesem Fahrwasser schwimmenden Deutschen, die sich bestärkt fühlen und nun ihrer Häme oder Abneigung ihren Kindern gegenüber Ausdruck verleihen. Es ist normal, dass keiner normal auf ihre Kinder reagiert: Die Reaktionen sind entweder übertrieben freundlich oder langmütig (viel Mitleid) oder in der beschriebenen Weise.
Jeder fühlt sich dazu berechtigt, ihre Partnerwahl posthum und ganz direkt zu befürworten oder zu kritisieren, jeder noch so einfache Mensch kann ungehindert und ganz in der Tradition stehend, die Mutter (oder den Vater) von schwarzen Kindern mit Worten oder Blicken herabmindern, demütigen, etc.
Was zurzeit in Deutschland fehlt, sind nicht die guten Ratschläge von Betroffenen und nicht Betroffenen (alle sprechen ja zurzeit über „tiefe Betroffenheit“), wie man dieses „Phänomen“ in die Wirklichkeit zu integrieren und damit als Eltern umzugehen hat. Es fehlt auch nicht an Beschwichtigungs-, Beschönigungs- und Vertuschungsversuchen im familiären und im freundschaftlichen Kreis. Auch kann ich landauf und -ab individuelle Koping-Strategien sammeln.
Was fehlt, und das macht einen großen Teil der Sorge aus, ist tatsächlich die Empörung und die Wut weiter Teile der Bevölkerung angesichts dieses Rassismus. Ich frage mich, wo lassen einerseits die Betroffenen ihre Wut über die erfahrene und unbegründete Ablehnung und Ausgrenzung? Wo lassen all die Mütter, die mir wieder und wieder von ihren schrecklichen Erfahrungen mit Deutschen und deren Reaktion auf ihre binationalen Kinder erzählen und deren Lebens- und Handlungsperspektiven hier zurzeit so eingeschränkt sind, ihre Wut, ihre Empörung und ihren Widerstand? Wo sind jetzt andererseits die Verbände, Initiativen und Vereine, die sich den Schutz von (binationalen) Familien und von Kindern auf ihre Fahnen geschrieben haben? In der Beratungsgesellschaft ist guter Rat teuer geworden und ist nicht einmal gefragt. Gefragt sind jetzt Empathie, Mut zur Wut, Solidarität und deutliche Zeichen. Und an Eltern von deutschen, weißen Kindern: Stellen Sie sich in einer Tagtraumreise einmal zehn Minuten vor, sie leben in Deutschland und ihr Kind ist nicht weiß . . .
SABINE SCHEIBNER, Bremen
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