: Was entsteht aus Jugoslawien?
■ Gesellschaft oder Volksgemeinschaft — Wege aus dem realen Sozialismus ESSAY
1989 war in Osteuropa nicht nur das Jahr der demokratischen Revolutionen, es war auch das Jahr, in dem der Schatten einer nationalistisch kanalisierten totalitären Gefahr auf die neu entstehende und noch undefinierte Ordnung fiel.
Allerdings gibt es unterschiedliche Formen von nationaler Identität und Nationalismus. Demokratische Veränderungen in Osteuropa und auch in der Sowjetion sind notwendig, auch nationale Befreiungskämpfe, denn überall versteckte sich hinter internationalistischer Maske die Praxis nationaler Unterdrückung. Gerade die stärksten und traditionsreichsten demokratischen Bewegungen, wie jene in Polen und der Tschechoslowakei, hatten auch eine ausgeprägte national-emanzipatorische Note. Es gilt aber nicht umgekehrt: Starke nationale Bewegungen sind nicht notwendig mit demokratischen Orientierungen und Organisationsstrukturen verbunden. Zerrüttete soziale Strukturen, die der reale Sozialismus hinter sich läßt, machen den Aufbau und die Stabilisierung ziviler und demokratischer Institutionen äußerst schwierig. Doch nur die Verbindung nationaler Identität und nationalistischer Bewegungen mit einem unabhängigen Raum freier Öffentlichkeit, mit zivilgesellschaftlichen und demokratischen Strukturen verheißt den Ausweg aus dem realsozialistischen Totalitarismus, ohne daß die Gesellschaft einem völkisch-nationalen Totalitarismus verfällt.
Die Vielfalt konkreter politischer Optionen, die heute in Osteuropa am Werke sind, läßt sich am Beispiel Jugoslawien zeigen, eines Staates, dessen widersprüchliche Entwicklungstendenzen durch die dramatischen Umbrüche in anderen Teilen Osteuropas — vielleicht zu Unrecht — verdeckt wurden. Jugoslawien existiert faktisch nicht mehr als einheitlicher politischer Raum; nur so ist es erklärbar, daß in verschiedenen Landesteilen unterschiedliche, ja gegensätzliche Veränderungsprozesse im Gange sind: Slowenien, Serbien, Kroatien und Kosovo können für jeweils besondere Verlaufsmuster politischen Wandels im realen Sozialismus stehen.
Slowenien, die nördlichste und am meisten entwickelte jugoslawische Republik, erfuhr als erste schon Mitte der 80er Jahre wichtige politisch-ideologische Veränderungen. Zuerst wurden Kräfte einer alternativen, unterdrückten zivilen Gesellschaft mobilisiert: lokale Gruppen neuer sozialer Bewegungen (besonders der Umwelt-, Friedens- und Frauenbewegung), Kriegsdienstverweigerer, Kommunikationsstrukturen einer neuen Jugendkultur. Den institutionellen Rahmen für diese Kräfte gab der offizielle Jugendverband ab, der sich der Kontrolle der Partei entzog. Erst nach dieser „alternativen Szene“, teilweise auch gegen sie, entwickelte sich eine national-konservative Opposition, die die Forderung nach politischem Pluralismus, Rechtsstaat und nationaler Souveränität Sloweniens erhob. Die „kritische Masse“ des Veränderungspotentials kam jedoch erst durch das Erstarken eines sozialdemokratisch orientierten Reformflügels innerhalb der slowenischen kommunistischen Partei seit 1987 zustande. Das Gegen- und Miteinander dieser drei Gruppierungen wurde, je weiter der Veränderungsprozeß voranschritt, durch die Übergriffe dogmatischer Kräfte aus anderen Teilen Jugoslawiens beziehungsweise der zentralistisch orientierten Akteure auf Bundesebene bestimmt. Im pluralistischen Spiel der slowenischen Reformkräfte bildete sich ein Minimalkonsens, der nicht nur nationale Unabhängigkeit, sondern auch grundlegende Institutionen liberaler Demokratie und ziviler Gesellschaft einschloß.
Die poliitsche Entwicklung in Serbien bildet den polaren Gegensatz zu Slowenien und ist gewissermaßen einzigartig in osteuropäischen Veränderungsprozessen. Dort hat ein neostalinistischer Flügel innerhalb der kommunistischen Partei die spontan entstandenen Impulse einer serbischen Nationalbewegung, die vor allem durch den Kosovo-Konflikt initiiert wurde, aufgenommen und zu einer antidemokratischen, totalitär-nationalistischen Mobilmachung verwendet, die sich in einer aggressiven Frontstellung gegen andere nationale Gruppen Jugoslawiens (vor allem Albaner, Kroaten und Slowenen) ausdrückte. Diese Konstellation hat zunehmend die Voraussetzungen einer Veränderung in Richtung ziviler Gesellschaft und Demokratie zerstört. Die Medien sind nahezu vollständig gleichgeschaltet, um den Parteichef (heute Republikpräsident) Slobodan Milosević wurde ein Führerkult aufgebaut, es existiert kein politischer Raum zur Austragung von Interessensgegensätzen, weil alle abweichenden Positionen von völkisch definierten Feinden Serbiens zugerechnet werden. Aussichten auf eine liberal-demokratische und auf nationale Toleranz ausgerichtete politische Wende in Serbien sind heute verschwindend gering.
In Kroatien, der zweitgrößten und eine Art Gegengewicht zu Serbien bildenden Republik, haben sich im Laufe des Jahres 1989 national-konservative und links-demokratische Oppositionskräfte gebildet, während die kommunistische Partei durch innere Blockade und Reformunfähigkeit einem langsamen Machtverfall ausgesetzt war. Dieses Machtvakuum begünstigte die Entstehung einer relativ freien öffentlichen Meinung und auch die Verknüpfung von nationalistischen und demokratischen Programminhalten. Andererseits bestärkte aber die Dynamik und der Extremismus der serbischen Nationalisten gerade den radikal rechten Flügel der Opposition. Die Aprilwahlen in Kroatien bestätigten diesen starken Auftrieb der Rechten, während die Kommunisten, inzwischen auf Reformkurs umgeschwenkt, rund ein Viertel der Wählerstimmen auf sich vereinigen konnten. Unabhängige linksdemokratische Gruppierungen, ebenso wie die Grünen, wurden völlig marginalisiert. Die starke Übermacht der nationalkonservativen Partei, die sich bezeichnenderweise Kroatische demokratische Gemeinschaft nennt und damit absichtlich Volksgemeinschaftsassoziationen erweckt, bedeutet, daß die nationalistischen Elemente in der Politik die zivilgesellschaftlich-demokratischen weitgehend verdrängen werden und daß auch in Kroatien die Gefahr eines nationalistischen Totalitarismus zum Vorschein kommt. Paradoxerweise werden gerade die Kommunisten als stärkste oppositionelle und demokratisch orientierte Kraft die Garantie dafür abgeben, daß öffentliche und zivil-demokratische Freiräume in der politischen Szene erhalten bleiben.
Schließlich verdeutlicht die Geschichte der nationalen Emanzipationsbewegung der Kosovo-Albaner, wie ursprünglich nur nationalistisch ausgerichtete Programme durch demokratische und zivilgeselslchaftliche Elemente erweitert werden können. Die nationale Opposition der Albaner vermochte noch zu Beginn der 80er Jahre ihren nationalen Forderungen keine demokratische Form zu geben (die meisten oppositionellen Gruppen waren damals am Marxismus-Leninismus des Hoxha-Regimes orientiert). Inzwischen hat sich das, besonders unter dem Einfluß osteuropäischer Revolutionen, grundlegend verändert, die Forderungen der albanischen Nationalisten schließen ein demokratisches und zivilgesellschaftliches Politikverständnis ein. Zugleich zeigte es sich am Beispiel Kosovos, daß demokratische Reformen nicht machbar sind ohne die nationale Autonommie: der Nationalismus der Kosovo- Albaner hat heute überwiegend demokratisch-emanzipatorischen Gehalt — gerade im scharfen Gegensatz zum faschistoiden Chauvinismus der serbischen Nationalisten.
Nenad Zakošek,
Sozialwissenschaftler in Zagreb
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