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Aus taz FUTURZWEI

Warum Trumpisten nicht geisteskrank sind They are not crazy

Trumpisten sind keine „Irren“, sondern opportunistische und damit mündige Selbstbelüger, die „Meinungsfreiheit“ als Recht auf Fiktionalisierung der Welt verstehen.

»Folie à Millions«: Trumpisten protestieren am 6. Januar 2021 in Washington gegen das demokratische Wahlergebnis der Präsidentschaftswahl Foto: Marc Peterson/laif

Von SAMIRA EL OUASSIL

»THEY ARE CRAZY!« brüllt der amerikanische Teil meiner Familie schreibenderweise in mein Handy, während extremistische Trump-Anhänger, uniformierte White-Supremacy-Neonazis und verkleidete Verschwörungserzähler gewaltsam in das Kapitol eindringen. Ich zucke zusammen. Aufgrund der Ereignisse, aber auch wegen des Wortes »crazy«.

Während der Amtszeit von Trump tauchte es immer wieder in Verbindung mit ihm auf, dieses Motiv des geisteskranken Autokraten, des pathologischen Lügners und krankhaften Narzissten. Und auch, wenn ich im Herzen und von der anderen Seite des Atlantiks stets diesen Anamnesen des orangefarbenen Sonnenkönigs zustimmen wollte, war mir klar, dass man mit solchen unqualifizierten Pauschalplattitüden und mit Vergleichen zu geistigen Krankheiten vorsichtig sein muss.

Es gibt ethische Richtlinien, die sogenannte Goldwater-Regel der American Psychiatric Association, die psychologische Ferndiagnosen ablehnt und PsychologInnen davon abrät, diese zu verkünden. Entgegen dieser Empfehlung entschied sich die forensische Psychiaterin und Präsidentin der World Mental Health Coalition Bandy X. Lee während Trumps Amtszeit mit einer Gruppe von PsychiaterInnen und PsychologInnen, eine Betrachtung seiner Psychologie zu wagen. In ihrem Buch Profile of a Nation: Trump's Mind, America's Soul hat sie neben der Betrachtung der Trump’schen Ausfälle ebenfalls seine Anhänger auf die Couch gebeten. Sie beschreibt die zwei wichtigsten emotionalen Antriebe, welche die Dynamiken zwischen Trumpisten und ihrem ehemaligen Präsidenten erklären könnten: narzisstische Symbiose und geteilte Psychose.

Narzisstische Symbiose und geteilte Psychose

Auf der einen Seite ein Anführer, der nach Bewunderung hungert und um sein defizitäres Selbstwertgefühl zu kompensieren, grandiose, aber artifizielle Allmacht projiziert, diese schillernd ausstrahlt. Auf der anderen Seite, ebenfalls auf der Suche nach gesellschaftlicher Bestätigung, narzisstisch gekränkte, in ihrer Selbstwahrnehmung verletzte, in den Strukturen verlorene und ideologisch verblendete Menschen, die dieses Identifikations- und Überhöhungsangebot dankbar annehmen. Mit der Sehnsucht nach einer elterlichen Figur, die sie anerkennt und erhört, bauen Trump-Fans eine symbiotische co-abhängige Beziehung zu seiner vermeintlich durchsetzungsfähigen Führungspersönlichkeit auf.

Die »geteilte Psychose« oder »induzierte Wahnvorstellungen« beziehen sich auf ein gewisses Ansteckungspotenzial im kollektiven Verhalten, das über gewöhnliche Gruppenpsychologie hinausgeht. Der Zeitschrift Scientific American erklärte Lee:

»When a highly symptomatic individual is placed in an influential position, the person’s symptoms can spread through the population through emotional bonds, heightening existing pathologies and inducing delusions, paranoia and propensity for violence – even in previously healthy individuals.«

»Der Fieberwahn ist auch eine Kosten-Nutzen-Entscheidung darüber, welche behauptete Welt für mich die meisten Vorteile bringt«: Zwei protestierende Trump-Anhängerinnen in Washington Foto: Marc Peterson/laif

Recht auf Realitätsverleugnung

Wenn man demnach den Trumpismus und die Bilder dieses Kapitol-stürmenden Irrsinns von einzelnen beteiligten Personen loslöst und den Aufstand als kollektives, psychosoziales Phänomen betrachten, als »Folie à Millions«, so können wir mit einer soziologisch angewandten Schablone der Psychologie besser verstehen, warum eine Gruppe Menschen sich entgegen aller Tatsachen und Fakten unbeirrbar in die Mär der gestohlen Wahl und in Verschwörungserzählungen flüchtet – ohne auf unlautere Weise Einzelne als »irre« bezeichnen zu müssen.

Im Land des Freedom of Speech kämpfte in den vergangenen Jahren ein Teil der AmerikanerInnen im Schatten eines Turbonarzissten darum, ihre Meinungsfreiheit als ein Recht auf die willkürliche Fiktionalisierung der Welt zu begreifen. Es ging lautstark lügend um eine kämpferische Verteidigung der eigenen Verdrängung. Meinungsfreiheit ist in dieser Wahrnehmung das Recht auf Realitätsverleugnung, bei der passend gemacht werden soll, was nicht passend gemacht werden kann.

Zugleich lebte der Trump’sche Autoritarismus von einem kultischen Verhaftetsein in der Fiktion eines sich selbst überhöhenden Mythos. Eine delirante Erzählung der Welt, welche die Demokratie als dysfunktional und falsch definiert, sie dadurch destabilisieren und die eigene kollektive Simulation legitimieren möchte; eine kollektiv halluzinierende Entscheidung gegen die Anerkennung einer Wirklichkeit, die zu viele negative Implikationen mit sich bringt – wie Deutungshoheitsmangel, Privilegienverlust oder schlicht Maskenpflicht; es handelt sich um ein hingebungsvolles Bejahen einer offenbar verführerischen, vielleicht spannenderen Wirklichkeitsfabrikation, in der jede und jeder ProtagonistIn eines Deep-State-Geheimagenten-Thrillers oder HeldIn eines politischen Real-Life-Videospiels sein kann.

Das Kultivieren blinder Flecke wird zum identitätsstiftenden Merkmal

Wie der Philosoph und Soziologe Herbert Marcuse erklärte, müssen Menschen eindimensional werden, um kohärente Leben führen zu können, also um zu überleben. Man nimmt die narrativen Angebote an, welche die eigene Existenz zu einer ertragbaren und aushaltbaren Textur des Seins webt. Dieses Annehmen erfolgt allerdings so selektiv, dass das lebhafte Kultivieren eigener blinder Flecke zum identitätsstiftenden Merkmal wird. Ich leugne, also bin ich. Oder anders ausgedrückt: Erst ist in meiner komplexitäts- und widerspruchsreduzierenden Fiktion, werde ich endlich, wer ich schon immer glaubte zu sein.

Das politische Arbeiten mit Wirklichkeitsfabrikation ist natürlich nicht neu und auch schon früher von Regierungsseite angestrebt. Im New York Times Magazine schrieb der Journalist Ron Suskind 2004 über einen Berater aus der Bush-Administration, der erklärte, dass Menschen wie er, also Journalisten wie Suskind, Teil der »Reality-Based-Community« seien. Menschen, die »glauben, dass sich Lösungen aus ihrem vernünftigen Studium der erkennbaren Realität ergeben. [...] So funktioniert die Welt nicht mehr wirklich. [...] Wir sind jetzt ein Imperium, und wenn wir handeln, schaffen wir unsere eigene Realität. Und während Sie diese Realität studieren – so wie Sie es tun werden –, werden wir wieder handeln und andere neue Realitäten schaffen, die Sie ebenfalls studieren können, und so werden sich die Dinge klären. Wir sind die Schauspieler der Geschichte ... und Sie, Sie alle, werden nur noch studieren müssen, was wir tun.«

Suskind schrieb diese Aussage Karl Rove zu, der allerdings dementierte, das gesagt zu haben.

Wer sich aussuchen kann, verrückt zu sein, kann nicht verrückt sein

Es handelt sich also nicht nur um eine ansteckende Psychose, die aus Verrücktheit und einer anführersuchenden Projektion heraus entsteht. Dieser Fieberwahn hat ein rationales, instrumentelles Moment, es ist auch eine Kosten-Nutzen-Entscheidung darüber, welche behauptete Welt für mich die meisten Vorteile beherbergt – also zurechnungsfähig kalkulierende Craziness. Denn wenn du dir aussuchen kannst, verrückt zu sein, kannst du nicht verrückt sein.

Und deswegen sollten wir sie genau nicht als »Irre« wahrnehmen und beschreiben, sondern als opportunistische und damit mündige Selbstbelüger, die mit Entschlossenheit verdrängen, um mit sich auszukommen. Ein wenig wie Hannah Arendt es einst über Deutschland formulierte: »Der wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht liegt in der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen, als handele es sich um bloße Meinungen.«

Die postfaktische Manie ist und bleibt eine erschreckend mündige, die in ihrem Selbsterhalt die Verhältnisse umkehrt und sich dadurch schwer angreifbar macht. Salman Rushdie erinnerte in seinem Essay über die Wahrheit als stets umstrittene Größe an folgende Episode aus Shakespeares Heinrich IV., in welcher Falstaff den Prinzen, der ihn gerade einer satten Lüge überführt, ganz überrascht fragt: »Was, bist du verrückt? Darf wahr nicht wahr bleiben?«

SAMIRA EL OUASSIL ist Kommunikationswissenschaftlerin, Medienkritikerin und war auch schon Kanzlerkandidatin.

Dieser Beitrag ist in taz FUTURZWEI N°16 erschienen