■ AUS POLNISCHER SICHT: Wartezeit 35 Stunden
Viele fragen sich, warum und wieso die Lastwagen an der polnischen Grenze mehrere Stunden, ja Tage auf die Zollabfertigung warten müssen. Die Antwort kann nicht nur heißen: zu wenig Schienentransporte, Müllexportrisiko, zu wenig Grenzübergänge, schlechte technische Ausrüstung der Zöllner. Die wichtigste Ursache liegt tiefer. Um sie zu erklären, muß man sich fragen, wer die Zöllner und in wessen Interesse diese Folterstaus der Lastwagen sind.
Die westlichen Gebiete Polens, ehemals der deutsche Osten, sind von den Bauern und dem ländlichen Lumpenproletariat des ehemaligen polnischen Ostens — heute Westukraine, Weißrußland, Teile von Litauen — besiedelt worden. Sie haben eine ähnliche Vertreibung aus ihrer Heimat erlebt wie die Deutschen aus dem Sudetenland, Ostpreußen, Schlesien. Interessant, daß die Zivilisation und Kultur dieser tiefsten Provinz des alten Polens eine Verpflanzung in die neue Heimat im Westen sehr gut überstanden hat. Der Satz ist ironisch gemeint: seit Generationen sind diese Menschen einer Russifizierung und gleichzeitig einer bewußt degenerierenden Politik des zaristischen Imperiums ausgesetzt gewesen. Es war zum Beispiel Pflicht, ein Teil des Lohnes in Alkohol auszuzahlen. Das Bildungsniveau war katastrophal, die einzige weltanschauliche Orientierung kam von der Kirche. Die höchste Tugend war es, den Staat — der doch immer ein Feind und Ausbeuter war — zu betrügen, sich von der Arbeit, die derjenigen des Leibeigenen nahe war, zu drücken. Nach dem Krieg und der Übersiedlung, als die Sowjetarmee, die wandernden Diebe und die Siedler selbst die zweifellos höhere Zivilisation der deutschen Vorgänger fast restlos zerstört hatten, hat der sogenannte Sozialismus nicht viel mehr zum Zerstören gehabt. Industrie gibt es in der Region kaum, die Landwirtschaft hat wenig Chancen auf dem Sand und ist seit neuestem der Konkurrenz der EG ausgesetzt. Die besten Leute arbeiten beim Zoll. Ein polnischer Zöllner aus Slubice fragt mich resigniert, wie es möglich sei, daß über 50 Beamte in einem Monat nur etwa sechzig Millionen Zloty (knapp 8.000 Mark) an den Staat abgeführt haben? Zu erwarten bei diesem Verkehr und den hohen Zollsätzen wäre mindestens das Hundertfache. Der Betrug ist die Regel, und man kassiert (für den Staat) nur von den ganz kleinen Fischen, damit wenigstens der Eindruck entsteht, daß der Zoll funktioniert.
Die Erwartung, daß eine »Revolution« in den osteuropäischen Ländern außer Formalien und Etiketten wirkliche Veränderungen im Nu bewirkt, wäre naiv. Der Grad, in dem der homo sovieticus weiter das Sagen hat und jegliche Verbesserungen blockiert, ist aber besorgniserregend und am Beispiel der täglichen Verkehrshinweise von der polnischen Grenze am eindringlichsten ablesbar. Piotr Olszowka
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen