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Waisenkinder der Medizin

Kindstode oder keinen Appetit: Schuld kann eine „Orphan-Krankheit“ sein.  ■ Von Sandra Wilsdorf

Ein Ehepaar bekommt einen Sohn. Zwei Tage nach der Geburt stirbt er aus ungeklärter Ursache. Die Frau wird erneut schwanger, bekommt wieder einen Sohn. Er wird zwei Tage vor Weihnachten geboren, ist lethargisch, trinkt nicht richtig. Die Ärzte sind ratlos. Einen Tag vor Heiligabend fällt das Baby ins Koma. Die behandelnden Ärzte ziehen einen Stoffwechsel-Spezialisten zu Rate. Der stellt sofort einen Harnsäurezyklusdefekt und dramatisch erhöhte Ammoniakwerte fest. Die Therapie beginnt. Zu spät. Das Kind stirbt Heiligabend, wie sein Bruder hat es nur zwei Tage gelebt.

Sein Tod wäre vermeidbar gewesen, hätte man das erste Kind auf eben diesen Defekt untersucht. Denn der ist vererbbar, man hätte das zweite Kind sofort mit dem entsprechenden Medikament behandeln können. Die beiden Jungen sind an sogenannten „Orphan-Krankheiten“ gestorben.

Die heißen nach Waisenkindern, weil sie so selten sind, dass kaum jemand sich um sie kümmert. Nicht die Pharma-Industrie – denn an Medikamenten für deutschlandweit gerade mal einige hundert Kunden lässt sich eben nicht viel Geld verdienen – und nicht die Ärzte, in deren Ausbildung dieses extrem seltenen Krankheiten nicht oder kaum vorkommen. Deshalb sterben viele der Patienten, ohne dass jemand weiß, woran. „Orphan Europe“ ist ein Pharmaunternehmen, dass sich auf diese Krankheiten konzentriert. Das Unternehmen beschäftigt in Europa 29, in Deutschland sechs Mitarbeiter bei Frankfurt.

In ganz Deutschland haben sie etwa 200 Kunden, 12 davon leben in Hamburg oder Schleswig-Holstein. Nach Angaben von „Orphan Europe“ kann ihnen in der Universitätsklinik in Kiel sowie in Hamburg am Unversitätsklinikum Eppendorf UKE und im Altonaer Kinderkrankenhaus geholfen werden. Am UKE werden Erwachsene mit seltenen Krankheiten zunächst in der medizinischen Poliklinik untersucht und dann in dem interdisziplinär arbeitenden Stoffwechselzentrum behandelt. Kinder gehen in die Kinderklinik, in der auch Stoffwechselerkrankungen behandelt werden. Im Altonaer Krankenhaus gibt es einen Schwerpunkt Nierenerkrankungen.

Die meisten „Orphan“-Patienten sind Kinder, weil diese Krankheiten vererbt werden. Oft handelt es sich um unterschiedlichste Stoffwechselstörungen, meistens sind sie lebensbedrohend. Einige könnten einfach festgestellt werden. „Wir setzen uns dafür ein, dass beispielsweise die Kontrolle der Ammoniakkonzentration in das Screening von Neugeborenen aufgenommen wird“, sagt Barbara Donnerstag von „Orphan Europe“.

Zwei Beispiele: Fehlen Enzyme nicht komplett, sondern haben eine Restaktivität, tritt die Erkrankung manchmal erst im Erwachsenenalter auf – oft mit so diffusen Symptomen wie Bauch- oder häufigen Kopfschmerzen. Und ist der Harnsäurezyklus gestört, kann kein Eiweiß mehr abgebaut werden. Deshalb meiden die Erkrankten Fleisch und Eier. Essen sie es doch, bekommen sie Kopfschmerzen. Aber diese Merkmale machen bei der Diag-nose oft erst im Nachhinein Sinn. Dann, wenn es zu spät ist.

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