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■ Wahrheit-Reporter vor Ort: Spuren der Menschlichkeit im märkischen SandVersackt im Katastrophengebiet (Oder)

Die Flut setzt alles in Bewegung. Seit vielen Tagen schon sind die Bewohner Ostbrandenburgs den unberechenbaren polnischen Wassermassen ausgesetzt. In Hunderte Keller ist die Oder geflossen, hat Heimwerkerbänke durchweicht und Kartoffeln ungenießbar gemacht; in den Vorgärten müssen die Blumen vom Schlauchboot aus gegossen werden. Nun ist auch noch ein Teil des Damms bei Frankfurt (Oder) gebrochen – ein Ende des Dramas ist nicht abzusehen. Und dennoch hat die Jahrhundertkatastrophe nicht nur ihre Schattenseiten. Die Menschen in Ostbrandenburg rücken enger zusammen: Gemeinsam läßt sich das Schicksal leichter verkraften.

Da ist zum Beispiel Barbara Wörtel. „Es geht um Nachbarschaft, außer bei Polen natürlich“, sagt sie bestimmt. „Wenn bei mir einer klingelt, um eine Tasse Sand zu borgen, dann kriegt der die. Egal, wieviel ich noch für mich übrig habe.“ Selbstlosigkeit? Die resolute Frau wirft den Kopf zurück. „Das ist ein Prinzip. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich habe noch ein Radio-Interview.“

Und da ist die Änderungsschneiderin Ulrike Gocken aus Ratzdorf. „Mir wurde klar, daß das Wasser sehr bald noch weiter steigen würde. Da wollte ich nicht einfach in den Sack hauen, sondern etwas tun“, sagt sie. „Ich packte meine Nähmaschine ins Kanu und meldete mich für einen Hilfseinsatz.“ Seither näht Ulrike Gocken in einer Frankfurter Turnhalle unermüdlich Sandsäcke zusammen. „Die gehen weg wie Eis am Sandstrand“, freut sie sich. Am Nachmittag erhält sie inzwischen sogar Unterstützung durch eine Gruppe von Hobbynäherinnen. „Ich habe abends noch einen Volkshochschulkurs im Sandsacknähen gegeben“, erzählt die tapfere Schneiderin. „Die Frauen waren begeistert und wollten das Erlernte sofort anwenden.“

Daß sie einmal soviel von Sand und Sandsäcken sprechen würden, „das hätten wir uns sicher nicht träumen lassen“, sagt der ehemalige Gabelstaplerfahrer Thomas Feger. Er ist einer von den vielen Freiwilligen, die Tag und Nacht Sandsäcke schultern und die schwere Last an die Stellen tragen, wo das Wasser über die Bordsteine schwappt. „Früher war Sand Mangelware“, weiß der rüstige Rentner. „In der DDR gab es ja nichts. Da mußte man lange anstehen, um wenigstens eine Schaufel voll zu bekommen.“ Amüsiert stellt er fest: „Dieselben Leute, mit denen ich heute in einer Sandsackkette stehe, haben mir früher gegen kleine Gabelstaplertransporte Sand getauscht.“ Erst wollten sie ihn übrigens nicht nehmen, berichtet er, aber dann „habe ich ihnen gezeigt, daß ich noch lange nicht zum alten Eisen gehöre“. Stapeln ist Fegers Metier, das erkannten die neuen Kollegen schnell. Und wer in diesen Tagen an den Verteidigungslinien der Oder entlangspaziert, hört die Jüngeren voller Respekt von Thomas Feger sprechen. Sie nennen ihn „der alte Sack“. „Für viele ist das ein neues, aber überaus wichtiges Gefühl, gebraucht zu werden“, bestätigt Pfarrer Christian Demmler.

Der umtriebige Kirchenmann, der seit Wochen kaum mehr als drei Stunden pro Nacht schläft, koordiniert die verschiedenen privaten Hilfsaktionen. „Jeder kann etwas tun“, mahnte er seine Gemeinde noch beim Gottesdienst – dem letzten, der im Trockenen stattfand. „Eine Stunde später mußten wir die Bibeln mit dem Kescher aus der Brühe fischen“, erinnert sich der begeisterte Angler. Mit allem, was zu retten war, zog er sich in den ersten Stock seines bescheidenen Häuschens zurück. Über ein geliehenes Handy sorgt er nun dafür, „daß zum Beispiel immer jemand guckt, ob unsere Helfer noch Zigaretten haben. Sonst muß eben mal einer los zum Automaten.“ Das, betont er, „kann auch eine Oma im Rollstuhl“. Eine Konfirmandengruppe wiederum paddelt in regelmäßigen Abständen um verlassene Häuser, „damit der Pole nicht auf dumme Gedanken kommt“. Auf „seine“ Jugendlichen kann sich der Pfarrer verlassen: „Wenn es Ärger gibt, machen die den Sack zu.“ Ohnehin sieht Demmler inzwischen „nur noch Positives, im Unglück natürlich“. Vielleicht habe es das gebraucht, sinniert er und zerkrümelt gedankenverloren eine Scheibe Sandkuchen, um die Menschen „wieder zueinander“ zu führen und „Nächstenliebe zu praktizieren“. Als das Wasser über den Sechsmeterpegel stieg, erinnert er sich, besuchte ihn eine alte Dame. „Sie trug ein kleines Päckchen bei sich und drückte es mir in die Hand.“ Erst nachdem sein Gast gegangen war, untersuchte er das Mitbringsel. „Es war Sand“, sagt er. Als er sich telefonisch bedankte, erfuhr Demmler, woher dieser Sand stammte: „Diese Frau opferte die einzige Erinnerung an ihren verstorbenen Gatten für die Gemeinschaft.“ Sie hatte die Lieblingssanduhr ihres Ehemannes aufgebrochen. „Die Flut setzt alles in Bewegung“, lächelt der Pfarrer. Carola Rönneburg

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