Wahlrecht-Urteil vom Verfassungsgericht: Abspeckkur mit Korrekturbedarf
Dass im Bundestag künftig rund einhundert Abgeordnete weniger sitzen, ist ein großer Verdienst der Ampel. Reformbedarf bleibt beim Wahlrecht dennoch.
K aum war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Wahlrechtsreform öffentlich, riefen CSU-Chef Markus Söder und andere Politiker der Union lautstark: „Schon wieder eine Klatsche für die Ampel!“ Das aber stimmt nur zum Teil – und auch nur zu einem kleinen. Im Kern hat Karlsruhe die Reform, die die Ampelfraktionen im März 2023 im Bundestag beschlossen haben, bestätigt. Und das ist gut so.
Damit haben SPD, Grüne und FDP es nach mehr als zehn Jahren folgenloser Diskussion endlich geschafft, die Größe des beständig anwachsenden Bundestags wirksam zu begrenzen. Und damit gezeigt, dass das Parlament in der Lage ist, sich selbst zu reformieren. Das ist ein großes Verdienst. Das im Übrigen nur möglich war, weil die CSU derzeit auf der Oppositionsbank sitzt. Die Christsozialen haben jahrelang mit der CDU im Schlepptau jede Reform blockiert, weil sie von der alten Regelung enorm profitierten.
Gut ist aber auch, dass die Richter*innen in Karlsruhe das neue Wahlgesetz der Ampel in einem wichtigen Punkt korrigieren: Die Streichung der sogenannten Grundmandatsklausel bei gleichzeitiger Geltung der Fünfprozenthürde erklärten sie für verfassungswidrig; jener Klausel also, nach der Parteien auch dann in den Bundestag einziehen, wenn sie zwar weniger als fünf Prozent der Stimmen erhalten, aber mindestens drei Direktmandate holen. Die Ampelparteien wollten die Klausel ursprünglich beibehalten.
Erst eine Woche vor Beschlussfassung im Bundestag wurde sie Hals über Kopf gestrichen. Damit schien sich der bis dahin verhältnismäßig faire Gesetzentwurf gegen die politische Konkurrenz zu richten. Das ist ein berechtigter Vorwurf, zumal das Wahlrecht mit einfacher Mehrheit allein der Ampel beschlossen worden war. Die Linke hatte es schließlich nur mithilfe ihrer Direktmandate 2021 wieder in den Bundestag geschafft, auch für die CSU, die bundesweit gerechnet knapp über fünf Prozent lag, hätte es künftig eng werden können.
Fünfprozenthürde sollte gesenkt werden
Für die nächste Bundestagswahl wird nun wohl die Grundmandatsklausel noch einmal gelten. Dass sich die Ampel so kurz vor der Wahl an eine Reform der Reform macht, ist eher unwahrscheinlich. Danach aber wird dies Aufgabe einer neuen Regierung sein. Wünschenswert wäre dabei zweierlei: dass die Union, die dieser vermutlich angehören wird, anders als angekündigt nicht versucht, die gesamte Reform wieder zu kippen.
Das Wahlrecht darf nicht zum Spielball von Regierungsmehrheiten werden. Und zweitens: dass bei der vom Gericht vorgeschriebenen Veränderung nicht die Grundmandatsklausel bleibt, sondern die Fünfprozenthürde abgesenkt wird. Weniger Stimmen würden verloren gehen, die Repräsentanz im Bundestag würde also erhöht. Und die Aussicht, mit Erfolg auch für kleinere Parteien zu votieren, könnte ein neuer Anreiz sein, sich an Wahlen überhaupt zu beteiligen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag