: Wahlkampf kann ganz schön weh tun
Noch nie mußten so viele verunzierte und zerstörte Plakate nachgeklebt werden. Eine Reihe von Wahlkämpfern bezogen Prügel – von Kahlrasierten, aber auch von DVU-Gegnern. Erinnerungen an Weimar werden wach ■ Von Annette Rogalla
Keine 60 Stunden mehr, und die Welt ist für Joachim Schmidt wieder friedlich. Wenn die Wahllokale schließen, gehen für den Jungunionisten aus Berlin-Treptow viele Tage der Angst zu Ende. „Solch einen intoleranten Wahlkampf wie diesen habe ich noch nie erlebt“, sagt Schmidt. Harmlose Worte findet der 28jährige Politikstudent für das, was er und sieben Parteifreunde mitgemacht haben.
Als sie am vorvergangenen Wochenende nachts um drei Uhr am Wahlstand ihrer CDU am S-Bahnhof Schöneweide standen, wurden sie von einem Trupp Kahlrasierter überfallen. Die Gruppe sprang aus dem Nachtbus, als sie sahen, daß ein Punk am Stand mit den CDUlern diskutierte. „,Scheiß Zecke, Scheiß Anarcho‘, schrien sie im Laufen“. Blitzschnell zertraten sie die Wahlplakate und droschen auf den Stand ein. Ein junger CDUler, der dazwischenging, bekam einen Fausthieb ins Gesicht. Zwei Zähne wurden ihm ausgeschlagen. Schmidt brachte sich in Sicherheit und alamierte die Polizei. Diese nahm zwei Angreifer fest, die anderen 18 entkamen. „Uns macht es große Sorgen, daß es im Wahlkampf tätliche Angriffe gibt“, sagt Matthias Wambach, Landesgeschäftsführer der Berliner CDU. „Das erinnert mich an die Weimarer Republik.“
Zu regelrechten Hetzjagden auf unliebsame Gegner kam es nicht in diesem Wahlkampf. Aber zu brutalen Überfällen. In Berlin-Lichtenberg griff ein Vermummter nachts zwei Plakatekleber an, die gerade davonfahren wollten. Der Mann sprang aus den Büschen und zertrümmerte mit einer halben Gehwegplatte die Frontscheibe ihres Autos. Die Plakatkleber waren für die PDS unterwegs. In Fellbach bei Stuttgart wurden dagegen Wahlhelfer der rechtsradikalen DVU attackiert. Die Angreifer schossen einem DVUler mit einer Schreckschußpistoile mehrmals ins Gesicht. Der Mann mußte mit Verbrennungen und einem Hörsturz im Krankenhaus behandelt werden. In Mecklenburg-Vorpommern verhunzten vor allem NPD- Sympathisanten Wahlplakate. Einem städtischen Angestellten, der die Schmierereien entfernen wollte, wurde eine Palette Eier aufs Auto geworfen. Zuvor sei der Mann aus der Neonazi-Szene bedroht worden, sagt Wolfgang Kanehl, Bürgermeister von Wolgast. Auch der Bürgermeister fühlt sich Wochen latent verfolgt.
Rowdy-Wahlkampf 98. In den Parteizentralen will man davon nicht viel mitbekommen haben. „Bei uns läuft alles sehr positiv. Wir erhalten viel Zustimmung“, sagt Michael Donnermeyer, Pressesprecher der SPD. André Brie, PDS-Wahlkampfleiter, weiß zwar von neonazistischen und antisemitischen Schmierereien, die Anfeindungen aber stecke seine Partei „einfach weg“. Für die Parteioberen scheint alles einfach und klar.
Entweder Kohl oder Schröder. Oder Gysi, Westerwelle, Fischer. Jeden Morgen lächeln ihre Gesichter frisch von Bäumen und Straßenecken. Auch wenn Gregor Gysi in der Nacht noch aus einer Klobrille geguckt hat, „ganz ordentlich draufgeschraubt“, tagsüber muß alles ordentlich sein. Dafür sorgt Mihai Danske. Seine Media-Agentur betreut die PDS. Noch nie in einem Wahlkampf mußte Danske so häufig nachkleben. „Der Vandalismus ist extrem“, sagt Danske. Im Ostteil Berlins seien etwa 50 Prozent mehr Plakate als 1994 zerstört worden. Eingeschüchterte Plakatkleber hängten den Job an den Nagel. Danske rechnet für seine Firma mit einem Verlust zwischen 50.000 und 75.000 Mark.
Mit Sprühflasche, Filzstift, Vorschlaghammer und Kreissäge gehen die Bilderstürmer ans Werk. Ihre Reviere liegen vor allem im Osten. „Große Aggressivität“ beobachtet Hans-Dierk Bobzin in Rostock, Leipzig, Hoyerswerda und Dresden. „Je höher die politische Konfrontation, um so höher die Beschädigungsrate.“ Seit 30 Jahren klebt seine Bochumer Firma für die Parteien. Im Vergleich zu 1994 kalkuliert Bobzin 25 Prozent mehr Plakate für den Osten ein. Die Lust, sie zu zerstören, zeige, „wie die Leute fühlen“. Heute schickt Bobzin noch einmal seine 300 Kleber durch die Republik. Ein letztes Mal werden alle angerissenen, verwitterten, zertretenen Pappen erneuert.
Sonntag nachmittag um sechs wird sich Bobzin ein schnelles Bier genehmigen und die Ärmel hochkrempeln. „Wenn die Wahllokale zumachen, räumen wir ab.“ Dann hat der ätzende Wahlkampf sein natürliches Ende gefunden.
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