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Wahl zwischen Skylla oder Charybdis

■ betr.: "Unsinn, du siegst" (Das "Deutsche Tagebuch" des Kommunisten Alfred Kantorowicz wiedergelesen von Reinhard Mohr), taz vom 12.10.90

betr.: „Unsinn, du siegst“ (Das „Deutsche Tagebuch“ des Kommunisten Alfred Kantorowicz wiedergelesen von Reinhard Mohr), taz vom 12.10.90

taz-Leser kennen die politische Einstellung von Reinhard Mohr. Wenn sie als Meinungsäußerung erscheint, können sie sich damit auseinandersetzen. Als Unterströmung in angeblich informativ gemeinten Texten, vor allem, wenn sie sich auf einen weithin unbekannten Gegenstand beziehen, vermittelt sie ein verzerrtes Bild, das als erster Eindruck die Vorstellung der Leser prägen könnte. Das ist unzulässig und bedarf einer Korrektur.

In der Besprechung der Kantorowicz-Tagebücher besteht die Verzerrung vor allem in Auslassungen, die zu einer falschen Gewichtung führen. Alfred Kantorowicz war sein Leben lang Kommunist im Sinne seines Freundes Axel Eggebrecht, der gegenwärtig die PDS vertritt. Seine harte Kritik am real existierenden Sozialismus und seinen Funktionären, die bei Reinhard Mohr reichlich zu Wort kommt, ist eine Kritik von innen, von der Idee des Marxismus her. Seine ebenso heftig und häufig vorgetragene Kritik am Kapitalismus bezieht sich auf beides, Ideologie und Praxis, vor allem hinsichtlich der westdeutschen Restauration. Sie meint eine Gesellschaftsform, die für Kantorowicz nie in Frage kam, auch dann nicht, als er, der Not gehorchend, in den Westen floh. Diese Seite des Tagebuchs fällt bei Reinhard Mohr völlig unter den Tisch, sei es, daß er sie in seiner Einäugigkeit übersieht, sei es, daß er bewußt Agitation betreiben will.

Kein Wort zu Kantorowicz' Kritik an der US-amerikanischen Wende nach Roosevelts Tod, McCarthy und so weiter, die ihm und anderen Emigranten einschließlich Thomas Mann, das US-Exil endgültig verleidete: Seite 74 und 98 Tagebuch:

„...das Schicksal Wilsons ist Roosevelt erspart geblieben. Er wird nicht mehr erleben müssen, wie andere ihm den Frieden verderben“.

„Alle Gründe sprechen gegen mein Bleiben (in den USA). Ich bin zu alt, um hier zu wurzeln, zu jung, um auf einem Logenplatz von Übersee aus, dem Existenzkampf meines Volkes zuzuschauen — gesetzt sogar, es wäre ein Logenplatz und nicht, wie zu errechnen, ein Gefängnisgitter. Denn die nächste Zukunft hier würde mich bereits vor die Entscheidung stellen: nicht nur alles, was ich in den vergangenen zwei Jahrzehnten gedacht, geschrieben, erträumt habe, sondern auch meine Genossen, Kampfgefährten, die Toten selbst, zu verleugnen, zu denunzieren, womöglich falsches Zeugnis abzulegen — oder zwischen den Mühlrädern der „unamerikanischen Komitees“ und all der anderen, das Land verseuchenden Spitzel, Provokateure, und Achtgroschen-Rackets zermahlen zu werden.“

Keine Andeutung bei Reinhard Mohr, daß die Einstellung der Zeitschrift „Ost und West“ nicht nur vom SED-Verbot, sondern auch durch permanente Behinderung und Beschlagnahme im US-Sektor und, fast gleichzeitig mit dem Verbot, von einer Rufmord-Kampagne des Rias bewirkt wurde: Zitate Seite 658 und 666 Tagebuch: „Es konnte nicht ausbleiben, es hat eine geheimnisvolle Zwangsläufigkeit für sich, daß zum Zeitpunkt, da die zuständige Kommandostelle der einen Seite Giftgas gegen den gleichen Mann abläßt.“

„Die Wahrheit ist umstellt. Die Verleumdungen, die Beschlagnahmen und Verbote, mit denen die Westagenturen uns diskreditierten und beeinträchtigten, sind die eine Seite; die mörderischen Intrigen, Wühlereien und Gewaltakte der Funktionäre hier wurden jedenfalls angedeutet durch den Bericht von den vergeblichen Fürbitten und Hilfsangeboten Heinrich Manns, Feuchtwangers, Zweigs; und der Stoßseufzer, daß es in unseren Läuften nicht mehr die Schriftsteller sind, die über das Geschick einer literarischen Zeitschrift zu verfügen haben, wird verstanden werden.“

Kein Hinweis schließlich, daß Kantorowicz bei seiner Ankuft im Westen die Anerkennung als Widerstandskämpfer verweigert wurde, weil er nicht bereit war, seine Freunde in der DDR zu denunzieren. Die Frage, „warum er es inmitten der SED-Gesellschaft so lange ausgehalten, warum er — wider besseres Wissen — gehofft und gekämpft hat“ findet im Tagebuch eine klare Antwort, die bei Reinhard Mohr nicht auftaucht: Wie so viele Emigranten (einschließlich wieder Thomas Mann) wußte er nicht wohin. Ost- oder Westdeutschland, das war für ihn keine Frage des Entweder-Oder, sondern des Weder-Noch. Er spricht mehrmals von einer Wahl zwischen Skylla und Charybdis — Skylla (laut Schwab) „fürchterlich bellendes Ungeheuer mit zwölf Füßen und je sechs Hälsen und Rachen“, Charybdis „verschlingender Meeresstrudel“. Gerne wäre er wie Odysseus mittendurch gesegelt, aber das wäre — Gott bewahre — der verbotene dritte Weg gewesen, das humanistische, demokratische, sozialistische, pazifistische Deutschland, das im November 1989 kurz auftauchte und wieder hinuntergetrampelt wurde, ebenso wie man es nach 1945 blitzschnell blockiert hat, und zwar von beiden Seiten, der „demokratischen“ und der „kommunistischen“ — eine seltene Übereinstimmung, die zu denken gibt.

Fazit: Reinhard Mohrs Beiträge sind nicht als Information zu lesen, sondern als Meinungsbilder beziehungsweise Meinungsmache. Man sollte sie nie ohne gründliche Nachprüfung konsumieren — empfiehlt Ruth Rehmann, Trostberg/Oberbayern

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