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Wärmende Worte gratis

■ Es ist kalt geworden in Deutsch land...

Daß in Deutschland ein rauhes Klima herrscht, beweist einem unmißverständich der Blick aus dem Fenster oder auf die letzte Heizölabrechnung. Daß dieses Klima auch im sozialen wie im menschlichen Bereich knapp vor dem Nullpunkt ist, sagen mir mein Gefühl und die tägliche Erfahrung.

Ins Grübeln kam ich, als ich neulich meinen abgelehnten Wohngeldantrag mit der Bemerkung zurückbekam: „Na sei'n Se doch froh, anderen geht's da noch viel schlechter.“ Recht hat sie, die nette Bearbeiterin.

Und nun bringen mich tatsächlich 0,50 DM dazu, meine guten Vorsätze über Bord zu werfen – nicht zu denen zu gehören, die ewig meckern. Mir geht's ja wirklich nicht schlecht, ich bin sogar recht zufrieden – mein Sechs-Stunden-ABM-Job ist mir noch bis August sicher, Schuhe kann ich für mich und meine Kinder bei Reno und Brot bei Aldi kaufen. Und wärmende Worte von Sozialstaat und vom Gürtel, den alle enger schnallen müssen, von steigenden Sozialabgaben, Kürzungen bei Lohnfortzahlungen, unsicheren Renten und nicht zuletzt der jegliche Schlüssigkeit entbehrende Kampf um das Hans-Otto-Theater ... vom Kanzler, Herrn Blüm und Waigel und vom Potsdamer Oberbürgermeister Gramlich bekomme ich gratis.

In meiner zunehmenden Verzweiflung rede ich mir ein, daß die Gürtel dieser Herren mit Sicherheit andere „Aus“-Maße haben als der meine. Und daß ich ja immer noch meine im Dezember gestiegene Miete zahlen kann, meinem 14jährigen Sohn hin und wieder einen Wunsch erfüllen, meiner Tochter das Mittagessen in der Schule und die Teilnahme an Veranstaltungen finanzieren kann. [...] Und hier bin ich wieder bei den fünf Groschen. Eine der letzten Potsdamer Stadtverordnetenversammlungen beschloß eine Streichung der Zuschüsse zur Schulspeisung und somit eine drastische Preiserhöhung [...].

Mir fallen prompt die Bemerkungen der Hortnerinnen meiner Tochter und der Lehrer an der Schule meines Sohnes wieder ein, die um ihre Stellen bangen müssen, und meinen KollegInnen im Bereich Jugendsozialarbeit, wo in den letzten Jahren zwei Drittel der Stellen im Bereich Kinder- und Jugendsozialarbeit den städtischen Sparmaßnahmen zum Opfer gefallen sind – und dann fallen mir wieder diese 50 Pfennig ein. Genausoviel kostet jetzt das gleiche Schulessen pro Tag für ein Kind ab Januar 97 mehr – nicht mehr 60 DM, sondern 70 DM pro Monat.

[...] Niemand, der Kinder hat, wird sich unentwegt über die Belastungen beschweren oder sie in Heller und Pfennig berechnen, ich wollte schließlich meine Kinder. Es ist aber kein Zufall, daß gerade Familen und Alleinerziehende den ständig steigenden Kosten, auch im sozialen Bereich, nicht standhalten können. 50 Pfennig zu 50 Pfennig, und irgendwann ist es der berühmte Topf, der das Faß zum Überlaufen bringt.

Tatsache ist, daß die Politiker in diesem Land alle Hände voll zu tun haben – diese „Hektik“ zwingt sie, immer schneller in ihren schwarzen Limousinen mit den getönten Scheiben achtlos an Leuten vorbeizufahren, die sich nicht einmal mehr eine Wohnung leisten können, oder an Jugendlichen, die in ihrer Freizeit nicht wissen, wo sie hinsollen. Obdachlosigkeit und Jugendkriminalität sind keine privaten Probleme, sie sind ein Spiegelbild der Gesellschaft.

Es ist kalt geworden in Deutschland, und schon lange fühle ich mich nicht mehr sicher in diesem Sozialstaat mit seinen Reformen und mit seinen geschwätzigen, kurzsichtigen Politikern. Ines Dietrich, Potsdam

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