: Wachsendes Begehren...
... beim Einkaufen in der Sowjetunion ■ Aus Moskau Barbara Riewe
Einkaufen in Moskau? Da sind die Assoziationen nicht sehr üppig: Hamsterkäufe, leere Regale, Defizite aller Art und Warteschlangen. Die Schlange als Symbol der desolaten Versorgungslage in der Sowjetunion.
Und wie geht es zu im Alltag, in den Geschäften und Kaufhäusern, wie kommt der Kunde ans real existierende Produkt? Die konsumerfahrene und neonfeste Westlerin hat schon Mühe mit der ersten Orientierung. Wo sind sie, die Buchhandlungen, Schuhgeschäfte, Lebensmittelläden? Keine Reklame fesselt den Blick, keine Leuchtschrift lockt. Also müssen die Begriffe genauer studiert werden: ein Schild mit der Aufschrift „produkty“ verweist auf einen Ort, an dem Lebensmittel verkauft werden. Ein Buchladen trägt die Bezeichnung „knigi“ und „univermag“ heißt ein Kaufhaus mit mehreren Abteilungen. Ist das gewünschte Produkt einmal ausfindig gemacht, ein Artikel des täglichen Bedarfs vielleicht, Käse oder Butter zum Beispiel, so sind weitere Hindernisse zu überwinden, die der Befriedigung des Kaufwunschs entgegenstehen. Wer einen „produkty„-Laden betritt, sieht sich mehreren Abteilungen gegenüber: Geflügel, Fisch, Fleisch, Brot, Milchprodukte. So steht es auf den Schildern, aber ein Blick auf die Ware will nicht gleich gelingen. Vor den Vitrinen staut sich die Kundenschar in Schlangen, deren Länge die Begehrtheit des Produkts anzeigt. Dann sieht man ihn doch, den Käse - den ersten wird er schon ausgehändigt: es könnte Gouda sein, nur in großen Stücken zu haben.
Also stellt man sich an, beginnt zu warten, lauscht den Gesprächen. Die Russinnen klagen, daß in den Wohnvierteln alles leergekauft ist, Informationen werden ausgetauscht, man erfährt, wo was zur Zeit zu haben ist. Und stellt verwirrt und verärgert fest, daß immer wieder Kundinnen mit einem „Ich bin vor Ihnen dran“ einen Platz in der Schlange reklamieren und die Wartezeit verlängern - bis man begriffen hat, daß es zur sowjetischen Einkaufskunst gehört, in mehreren Schlangen gleichzeitig anzustehen. Mit wachsamen Blicken beobachtet man die Verkäuferin, mit wachsendem Begehren fixiert man den Käse - und ist endlich selbst an der Reihe. „Ein Stück Käse bitte!“ Ein schönes großes Stück wird eingepackt in Pergamentpapier. Aber nicht ausgehändigt. Erst muß ja an der Kasse bezahlt werden. Leise den Preis vor sich hinmurmelnd reiht man sich wieder ein, in die Kassenschlange diesmal. Das Begehren wächst erneut, als Lohn der Geduld winkt ein Coupon. „Welche Abteilung?“ „Käse.“ „Der Preis?“ Aus dem Gemurmel wird ein Satz.
Bleibt noch der Tausch Coupon gegen Ware, diesmal ganz direkt: einfach das Käsestück mit dem passenden Preisschildchen heraussuchen, zugreifen, der Verkäuferin das Zahlscheinchen in die Hand drücken und das Erworbene aufatmend in die Tasche gleiten lassen.
Und dann weiter, zum nächsten Produkt, zur nächsten Schlange...
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