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WIDER DIE PHILISTER

■ Das Jugendkonzert der Philharmoniker

WIDER DIE PHILISTER

Das Jugendkonzert der Philharmoniker

Die Jugend weiß eben nicht, was sich gehört. Beethovens Leonoren-Overtüre Nr.2 platzt los wie eine Bombe und fällt dann ganz zurück ins pianissimo. Ruft da doch einer „Lauter!“ Natürlich, die mit ihren geschädigten Disco-Ohren haben's nötig, erläutern neben mir die grauen Schläfen. Zwischen den einzelnen Sätzen wird geklatscht! Der Philisternachbar blickt peinlich berührt und strafend. Er faßt zusammen: „Zum Kotzen!“ Damit meint er uns: Wir haben zu laut geflüstert. Unverzeihlich. Des Philisters Urteil saust nieder wie ein Fallbeil. Wir sind disqualifiziert als schlechte Hörer.

Der Philister ärgert sich. Daß er sich im Kampfgetümmel des freien Verkaufs für den ersten Konzerttermin nicht entscheidend hat einmischen können, muß er nun büßen. Gern hätte er die 42,50 Mark für den ungestörten Musikgenuß am Vorabend gegeben! Ein Publikum, das 42,50 Mark zahlt, hustet nicht während des Konzerts. Da geht er auf Nummer Sicher. Nun aber sitzt er im Jugendkonzert des Senats und hat mit dem Einheitspreis von 6,50 Mark ein undiszipliniertes Publikum mit eingekauft.

Natürlich: Auch heute spielen die Philharmoniker engagiert und blitzsauber. Dirigent Ozawa ist in Bestform. Beethovens Leonore Nummero Zwo wird unter Ozawas Strich plastisch und ergreifend. Hinter den dunklen Bässen und Klarinettenschluchzern sieht man Fidelio im Kerker schmachten nach Leonore. Und - ah! - das befreiende Trompetensignal aus der Ferne ist wunderbar gestisch, stimuliert die Utopie der Revolution, der befreiten Gesellschaft. Nein, das denkt der Philister nicht. Die Revolution fällt aus: Denn da hat doch jemand gehustet, das dritte Mal schon! Ja, die kauen Kaugummi im Konzert! Kein Wunder, wenn die sich verschlucken!

Und auch das atemberaubende Bratschenspiel von Wolfram Christ in Bartoks posthumem Bratschenkonzert reicht dem Philister nicht. Sein Ohr fahndet nach Hustern und Flüsterern. Es ist zu spät. Es kann sich nicht mehr befreien von dem Zwang, jedes Husten zu registrieren. Sein Hirn führt Strichliste. Ab drei wendet er sich um, den Übeltäter mit einem Blick zu strafen. Das ist Arbeit.

In der Pause fällt dem Philister ein, daß er eigentlich zum Zwecke der Erbauung und Erhebung des Geistes gekommen war, und - geht. Mit ihm seine Frau, die zwei Plätze neben uns sind leer. Er verpaßt Tschaikowskys Vierte Symphonie. Was aber nicht weiter schlimm ist, da sie ihm wahrscheinlich eh nicht gefallen hätte. Urteil: geistlos, effektheischend, Salonsentiment.

Am ersten Abend hörte ich mit dem Wissen: Tschaikowsky war schwul und bearbeitet in diese Symphonie die gesellschaftliche Ächtung seiner Natur. Die Trompetenfanfare hämmert ihm immer wieder das Schicksal seiner letztlichen Einsamkeit ein, bis er sich nach stiller Resignation im letzten Satz zu gewaltsamem Frohsinn und Geselligkeit zwingt. Das Publikum nimmt den Schluß für bare Münze, und wie der Zirkusbesucher von Kafka lege ich mein Haupt auf die Brüstung und gehe verständnis- und ratlos im rauschenden Beifall unter.

Heute, am Dienstag abend des Jugendkonzerts, habe ich all das vergessen und nehme Tschaikowskys Symphonie als großes sinnliches Vergnügen: Musik wie ein gutes Essen, kulinarisches Hören. Tschaikowskys Musik ist ein Leibgericht musikalischer Effekte, von einem Koch, der sein Handwerk versteht, serviert von einem perfekten Team: Ozawa und den Philharmonikern.

Ozawa hat keine Angst vor dick aufgetragenem Pathos. Als solches bringt er es, ungebremst. Wenn die Musik voller Emotion und Effekte steckt, bringt er sie, ohne die Skrupel der Fetischisten, die Musik nur absolut gelten lassen und deshalb Effekte und Expressivo zurücknehmen und dämpfen. Auf der anderen Seite beherrscht er die strenge, ideele Sprache des Absoluten wie bei Beethoven. Deshalb mein wiederholter Tip zum Trend: Ozawa ist Karajans Kronprinz.

Mein zweiter Tip: Wenn demnächst dasselbe Konzertprogramm einmal als normales Konzert des freien Verkaufs, als „Bürgerkonzert“, zum zweiten Mal als „Jugendkonzert“ des Senats gegeben wird, geht in beide! Ein Klassenunterschied, wie Geld den Zugang zur Kunst regelt, wie dumm und gleichzeitig richtend und deklassierend der Bürger Kunst konsumiert. Er definiert sich durch dünkelhafte Abgrenzung. Das ist der feine Unterschied. Also: Jugendkonzerte für einen unverkrampften Musikgenuß, gegen die Philister!Wolfgang Böhmer

Das nächste Jugendkonzert: Sa, 11. Juni, 20 Uhr in der Philharmonie. Junge SängerInnen bringen Arien von Donizetti, Verdi, Rossini, Wagner, Mozart, Weber u.a. Es spielt das Radio Symphonie Orchester.

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