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Archiv-Artikel

WER IN EINE NOTUNTERKUNFT GEHT, IST SCHON OFT EIN BISSCHEN KAPUTT UND MAN KANN KEINEM KAPUTTEN BEFEHLEN, NICHT MEHR KAPUTT ZU SEIN Die Solidarität ist abhandengekommen

Foto: Lou Probsthayn

KATRIN SEDDIG

Dem Pik As in Hamburg, der Notunterkunft für obdachlose Männer, wurden neue Vorschriften verpasst. Es dürfen nur noch eine begrenzte Anzahl von Männern dort übernachten, während in Harburg zum Beispiel fertig eingerichtete Notunterkünfte leer stehen.

Der Sinn der neuen Vorschriften ist der, Ordnung zu schaffen. Es ist nicht besonders nett in einer Notunterkunft, manchmal vielleicht tatsächlich etwas ungeordnet, und manche Obdachlose schlafen deshalb sogar im Winter lieber auf der Straße. Im Pik As schlafen mehrere Männer in einem Raum, sie sind naturgemäß manchmal nicht gepflegt und manchmal haben sie ihre Probleme dabei und sind nicht mehr ganz gesund, körperlich als auch psychisch, alles naturgemäß, denn wer in eine Notunterkunft geht, hat sonst nicht mehr viel und ist schon oft ein bisschen kaputt. Obdachlos halt.

Ein Obdachloser lebt in kaputten Umständen und ist aus dem bürgerlichen Leben gefallen, selbst verschuldet, wenn es das gibt, oder durch Schicksal. Viele Obdachlose in einer Unterkunft sind halt viele Probleme auf einem Haufen, und die Stadt sieht sich offenbar in der Pflicht, Ordnung in eine Unordnung zu bringen, in dem sie Vorschriften erlässt, Wachposten aufstellt und Kontrollen durchführt. Damit verschärft sie einen Mangel, der sich nicht durch Vorschriften beseitigen lässt. Man kann keinem Kaputten befehlen, nicht mehr kaputt zu sein.

Dass anderswo Unterkünfte leer stehen, dafür finde ich allerdings auch nicht den Hauch einer Erklärung. Ich denke, dass es einigen Verantwortlichen einfach an Vorstellungskraft mangelt, an Einfühlungsvermögen, vielleicht an Fantasie? Mangelt es ihnen an Fantasie, sich die Lebensgeschichte von anderen Menschen auszumalen? Zum Beispiel auch die von Flüchtlingen? Sind die Menschen einfach nicht informiert? Können sie sich nicht vorstellen, warum die Leben von anderen Menschen nicht so verlaufen, wie ihre, auf ihrer Arbeitsstelle, in ihrer Wohnung, mit ihrem Ehepartner mit ihren zwei Kindern, die schon ihr eigenes Konto haben und die zum Abitur einen gebrauchten Kleinwagen bekommen?

Ich glaube nicht, dass ich die Welt verbessern kann, aber ich zeige immerhin niemanden an, wie die AfD die Frau Deuflhard, ich missgönne nicht den Flüchtlingen ihre Unterkunft, auch wenn sie ihre Ausweise nicht vorgezeigt haben, auch wenn die Vorschriften und Gesetze etwas anderes vorschreiben, mir sind die Gesetze nicht über dem, was mir Gefühl und Verstand vorschreiben. Warum sind die Leute so voller Hass auf Menschen, die schwächer sind, denen es schlechter geht und die auf Hilfe angewiesen sind? Woher kommt das? Ist das Angst?

Und was ist mit der Solidarität? Gibt es die noch? Ist mit der Auflösung von dem, was mal das Proletariat war, mit dem was überhaupt Klassen waren, mit dem Trend zur Selbstoptimierung, als plötzlich jeder sein eigener Ausbeuter wurde, ist da die Solidarität abhandengekommen? Kann es sein, dass dieselben Menschen, die sich täglich als Pendler in den Strom der Angestellten auf ihren Weg in die großen Städte einreihen, dass die nicht bereit sind, Solidarität mit den ebenfalls angestellten Lokführern zu zeigen, die gerade fünf Prozent mehr Gehalt fordern? Auch wenn das unangenehm und anstrengend ist?

Ist die (internationale) Solidarität ein Anachronismus, geübt nur noch von belächelten Idealisten? Als gesellschaftlicher Wert sowie auch als Begriff, der kaum noch vorkommt, in der Presse, in der Umgangssprache? Und wodurch ist sie abgelöst worden? Durch einen besserwisserischen, höhnischen, pragmatischen Zynismus? Ich weiß es nicht, ich bin ja selbst etwas zynisch, ich setze kaum noch auf die kommunikative Vernunft, obwohl ich das gerne möchte und ich weiß ja auch, dass es neben der Angst, Feigheit und menschlichen Kleinheit noch Menschen gibt, die sich bemühen, mehr als ich, das gebe ich zu.

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr neuer Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.