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Archiv-Artikel

WAS AUF DEN ZENTRALEN PLÄTZEN SÜDEUROPAS GESCHIEHT Wir sind nicht gegen das System, das System ist gegen uns

KNAPP ÜBERM BOULEVARD

VON ISOLDE CHARIM

Ist der griechische Syntagmaplatz der Tahrirplatz Europas? Ist die spanische Bewegung 15-M die europäische Version des arabischen Frühlings? Das äußere Erscheinungsbild legt das nahe. Hier wie dort besetzt eine große Menge vorwiegend junger Leute unerwartet einen zentralen Platz, um ihrer Empörung, ihrer Wut und ihrer Frustration über die gegebenen Verhältnisse Ausdruck zu verleihen. Aber die Ähnlichkeit ist trügerisch: Die Proteste sind ganz anderer Art. In gewissem Sinn sind sie sogar gegensätzlich. Auf dem Plakat eines spanischen Demonstranten steht: „Wir sind nicht gegen das System, das System ist gegen uns.“ Das ist eine präzise Erklärung und eine luzide Parole für das, was spezifisch ist an den derzeitigen Protesten in Griechenland, Spanien und Portugal.

Proteste, wie wir sie bislang kannten, auch jene in den arabischen Ländern, erheben Einspruch: Einspruch gegen die politischen Strukturen, gegen die ökonomischen Verhältnisse. Die Schlachtordnung dabei ist eindeutig: Protestierende gegen Mächtige. Das System ist das Gegenüber, von dem man sich abgrenzt. Und genau aus dieser Ablehnung gewinnen Rebellen ihre Identität. In dieser Anordnung sind auch jene Agenturen des Dagegenseins entstanden, die „Zornbanken“ (Peter Sloterdijk), die die Empörung zu verwalten versprachen. Das ist das bekannte Schema. Ich will nun gar nicht auf das hinaus, was Sie vielleicht meinen. Es geht mir nicht darum, dass die Macht heute so diffus und gleichzeitig so allgegenwärtig geworden ist, dass sie kein greifbares Gegenüber mehr abgibt. Die Parole „Wir sind nicht gegen das System, das System ist gegen uns“ benennt etwas ganz anderes.

Sie sagt: Wir sind dafür! Wir sind für die Demokratie. Wir sind für Europa. Ja, wir sind sogar für den Kapitalismus. Wir sind so sehr dafür, dass wir Teil davon, Teil des Systems sein wollen. Wir nehmen dessen Vorgaben und Angebote an. Und wie wir sie annehmen. In der Nachkriegszeit war der Wohlfahrtsstaat die wesentliche Institution der sozialen und politischen Integration. Mit dessen Erosion hat sich diese Aufgabe zunehmend auf die Bildung verlagert: Bildung soll nunmehr das garantieren, was der Wohlfahrtsstaat nicht mehr leisten kann oder will. Bildet euch – das war die Losung und das Versprechen der letzten zwanzig Jahre. Bildet euch – denn das garantiert euch euren Platz in der Gesellschaft. So lautete das Tauschangebot. Auf den Plätzen Südeuropas campieren eine Unzahl gebildeter junger Leute. Gut ausgebildet, haben sie dennoch keinen Platz gefunden. Das System ist gegen sie, obwohl sie seine Anforderungen erfüllt haben. Sie haben ihren Teil des Deals eingelöst und haben dennoch keine Perspektive.

Bejubeln oder belächeln

Was ist nun ein Protest, der von keiner Alternative getragen wird? Wie sieht eine Bewegung aus, wenn es keine wirklichen Lösungen zu geben scheint? Zunächst ist sie bestimmt durch die zunehmende Ablehnung der Agenturen des Dagegenseins wie Gewerkschaften oder linke Parteien. Das erhöht die Bedeutung des Geschehens vor Ort, auf den Plätzen. Nicht Forderungen, die auf die Zukunft zielen, sind zentral, sondern der Moment des Protests selbst ist es. Man mag die Diskussionsforen, Kommissionen und Arbeitsgruppen, die Vollversammlungen, Putzdienste und Erste-Hilfe-Zelte bejubeln oder belächeln. Belächeln, weil die politische Energie ohne Kanalisierung verpuffen wird. Bejubeln, weil man darin die Wiederkehr eines demokratischen Moments, eines tatsächlichen demokratischen Ereignisses sieht. In jedem Fall bricht sich die Empörung, die ja eine eminente politische Energiequelle ist, hier eine neue Bahn, indem sie die geregelten Bahnen zurückweist und dennoch nicht gegen das System antritt. Demokratie, schreibt der bulgarische Politologe Ivan Kratev, sei keine „satisfaction machine“, sondern Umgang mit Unzufriedenheit. Die Qualität der europäischen Demokratien wird sich daran erweisen, ob diese Proteste nur ein Abreagieren, ein psychopolitisches Ausagieren bleiben – oder ob aus der Unzufriedenheit eine tatsächliche politische Veränderung entsteht.

■  Isolde Charim ist freie Publizistin und lebt in Wien