: Vulnerable vereinigt euch!
betr.: Mutter ist nicht schuld“, taz vom 25. 11. 05
Menschen mit einer Angsterkrankung konnten also in der Kindheit – sofern die Ursachen hier zu suchen sind – keine Strategie entwickeln, um mit dieser Emotion umzugehen. Aber Lernen findet bekanntlicherweise immer in einer Umgebung statt. Und die ersten Modelle, mit Gefühlen umzugehen, werden nun mal bei uns in den Familien vermittelt, die auch Auffangbecken für Probleme seien sollten, die außerhalb der Familienkreise entstehen.
Die Wirklichkeit ist immer komplexes Zusammenspiel (manchmal auch nur einfache Addition) mehrerer Faktoren, das ist eine Binsenweisheit. Angst ist dem Artikel zufolge zu 50 Prozent genetisch verursacht und die andere Hälfte hat psychosoziale Gründe. Mit dieser Aussage lässt sich so ziemlich alles beschreiben, auch Fettleibigkeit zum Beispiel hat genetische wie psychosoziale Ursachen. Mutter also hat keine Schuld an der Angsterkrankung des Kindes, der Vater auch nicht, Tante und Onkel sowieso nicht, Tochter oder Sohn ist einfach nur zu oder hypersensibel! Der „genetische Teufel“ steckt hier im Detail und heißt Vulnerabilität, und das scheint zunehmend zu einem bequemen Konzept zu werden, Verantwortung abzuwälzen: „Ist halt genetisch!“ Kurz geschlossen, nennt man so etwas.
Angesichts der Menge der Angsterkrankungen in diesem Lande wird es Zeit für den Schlachtruf: Vulnerable aller Länder vereinigt euch, bevor man euch den genetischen Stempel aufdrückt.
ROBERT MEYER, Berlin