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Vortrefflicher Geschichtsträger

„Die verlassenen Schuhe“ – Eine Ausstellung in Bonn läßt alle Fragen diffus schillernd offen  ■ Von Bernd Imgrund

Bedürfnisse werden heutzutage bekanntlich nicht mehr vorrangig befriedigt, sondern zunächst produziert. Eine Obsession, der die spätkapitalistische Gesellschaft in zunehmendem Maße erliegt, ist jene nach Bestandsaufnahme und Musealisierung des bisher Erreichten. Mag die Warenpalette auch noch so minutiös definiert sein – vom Deutschen Museum des Bundeskanzlers bis zum Kölner Schokoladentempel des Kakaoprälaten Imhoff ist alles möglich.

Nun also gibt es die Ausstellung „Die verlassenen Schuhe“, unterstützt unter anderem vom Deutschen Leder- und Schuhmuseum in Offenbach und vom Schönenwerder Bally Schuhmuseum. „Muß das eigentlich sein“, fragt man sich, und die erste Reaktion lautet natürlich „Nein“. Zunächst scheint hier alles an der zweckmäßigen Natur des Gegenstandes vorbeizulaufen. In der Kunsthistorie mag mit der Darstellung von Schuhwerk zwar einiges über den „Ursprung“ gewonnen sein, doch Heideggers Bild vom schlammbeschmierten Zeug am Fuß des Bauern auf dem Felde wiegt nur wenig, wenn man sie mit jenen illustren High Heels vergleicht, die Warhol schon in den fünfziger Jahren zeichnete. Spätestens seit Pop-art gilt gerade der Fetischcharakter als artifiziell: Noch die Plateaus, auf denen die Models von Vivienne Westwood über den Laufsteg stöckeln, finden sich auch in den Phantasien eines Konrad Klapheck wieder. Andererseits eignet sich der Schuh, vergleichbar höchstens noch dem Hut, ganz vortrefflich zum Geschichtsträger. Gleich stellen sich Bilder und Bildungsreminiszenzen ein: Joß Fritz und seine aufständischen Bauern der Wende zum 16. Jahrhundert, die unter dem Banner des Bundschuhs, ihres ledernen Halbstiefels, den Boden für den großen Bauernkrieg von 1524/25 bereiteten. Ritter- und Safarifilme rufen sich in Erinnerung, in denen das Aufsetzen des Fußes auf den besiegten Gegner/das erlegte Großwild unumschränkte Macht symbolisiert. Auch der Ur- Camel-Mann lehnt sich lässig an die Großhirnrinde, zwar noch ohne Camel-Boots, dafür aber mit Loch in den Siebenmeilenstiefeln. Spannende Brücken lassen sich schlagen, die einen von den Blue Suede Shoes über jene, die just made for walking sind, direkt in die Espadrillos von Bata Ilic hüpfen lassen, aus denen noch der Sand aus Hawaii rieselt. Der Schuh als Poesiealbum: Was wäre Deutschland ohne die Füße von Lothar Matthäus, was wiederum der ohne seine Stollenschuhe? Was gäbe nicht so mancher für Andi Brehmes legendären Elfmetertreter von 1990? Und einmal beim Sport angelangt: Ist der Generation der heute Dreißigjährigen der Salamander-Lurchi nicht das, was Charles Barkley und Michael Jordan den heutigen Kids? Schließlich ein Fast Break durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts: Von den Kneipp-Sandalen der Wandervögel in die Knobelbecher des Zweiten Weltkriegs und mit einem doppelten Backlash über die Birkenstock-Generation in die Doc Martens der Neonazis. Der Assoziationsmarathon ließe sich endlos fortsetzen, mit Jesuslatschen, Öko- Kickers oder dem bundestagserprobten Fischer-Turnschuh – allesamt haben sie eine generationsspezifische Bedeutung.

In Bonn wird keiner der oben genannten Pfade beschritten. Eine Schuh-Ausstellung im Jahre 1993 ohne klobige Springer- oder blankgewichste SA-Stiefel – wie ist das zu rechtfertigen? Es funktioniert mittels eines Konzepts, das sich darauf beschränkt, „Schuhe als schillernde Objekte der Faszination, der Phantasie, der Eleganz, des Designs und – ebenfalls nur in exemplarischer Form – der Kunst“ (Katalog-Vorwort) präsentieren zu wollen. Die Frage nach dem Warum dieses zur Werbeformel euphemisierten Offenbarungseides drängt sich geradezu auf. Vor allem, wenn dann doch eine Alibinische der Exposition unter dem Motto „Schuhe als Zeichen der Macht“ firmiert, in der lediglich ein Gemälde Eduardo Arroyos zum Franco-Faschismus („Dreißig Jahre danach“, von 1970) das Thema einigermaßen trifft.

Deutlich besser bedient wird der Voyeur. Als Blickfang hinter der gläsernen Eingangstür locken Allen Jones' weidlich bekannte Objekte „Hutständer“, „Tisch“ und „Stuhl“ (alle 1969), jene dürftig belederten, zu Haushaltsgegenständen funktionalisierten Frauenpuppen. Der Ambivalenz von SM- Phantasien und der Dechiffrierung sexistischer Werbe- und Filmbilder wird die Präsentation der Werke in einem Stahlgitterkäfig allerdings nicht gerecht, vielmehr löst sie sich in seichter Erotik auf. Exponate zum Fetisch „Schuh“ finden sich über das gesamte Areal verstreut, etwa einige Fotografien Helmut Newtons und Zeichnungen Tomi Ungerers aus der „Totempole“-Serie von 1970, aber nirgendwo systematisch gebündelt und kontrastierend beziehungsweise ergänzend gegenübergestellt. Schautafeln, historisch-soziologische Erläuterungen oder gar deren audiovisuelle Unterstützung fehlen völlig.

Flankiert von wild gehängten Bildern und Skulpturen von Künstlern, die – wie Jürgen Klauke („Is' ja klar“, 1982/83), Jan Jansen („Linea Erotica“, 1991), Barbara Nessim („Carnival“, 1973) oder Karin Székessy („Jutta und Yvonne“, 1979; „Rotes Stiefelchen“, 1991) – mehr oder weniger häufig Schuhe ins Zentrum ihrer Arbeiten stellten, thronen diverse Einzelstücke, Tragbares und Unbegehbares, hinter schaufensterähnlichen, zum Teil rotierenden Glaskästen. Der Erkenntnisgewinn für den Betrachter bleibt angesichts der diffusen, „schillernden“ Fülle gering.

Wer wirklich etwas erfahren will über mittelalterliche Schnabelschuhe und ihre phallische Konnotation; über chinesische Gin Lien für die verkrüppelten Füße von Konkubinen und Adelsdamen; oder über venezianische Chopinen, unter dem Gewand zu tragende Stelzen, mit deren und ihrer Dienerinnen Hilfe sich die Hoffräuleins bis zu einem halben Meter über dem Boden fortbewegen konnten: der kaufe sich den Katalog zur Ausstellung. Daß Caligula „Stiefelchen“ heißt, weil der Namensträger schon als Kind die Stiefelsandalen des Fußvolks bevorzugte, mag manchem bekannt sein. Daß wir unsere Socke dem „Soccus“, dem Schlupfschuh der klassisch-griechischen Komödianten verdanken, dürfte für die meisten jedoch ebenso eine etymologische Bereicherung sein wie das Wissen um den Ursprung des Wortes Sabotage: Mit ihren „Sabots“, ihren Holzlatschen, sollen meuternde französische Bauern zuweilen die Felder ihrer Lehnsherren zertrampelt haben.

Eingebettet sind diese lehrreichen Marginalien in diverse, ebenso fundierte wie unterhaltsam geschriebene Essays zur Geschichte des Schuhs in soziologischer und psychologischer Hinsicht, die all das bieten, was die Ausstellung vermissen läßt. Karin Baumanns Beitrag „Schuh – Liebe“ etwa vollzieht den kleinen Schritt von der mythischen zur erotischen Komponente des Schuhs: Die griechische Statuette einer Göttin, die zum Zeichen ihrer Erdverbundenheit (=Fruchtbarkeit) den Fuß entblößt, korrespondiert mit dem noch heute im ländlichen Osteuropa anzutreffenden Hochzeitsbrauch, demgemäß der Bräutigam Wein aus dem Schuh der Braut zu trinken hat. In diesem Zusammenhang erschließt sich auch, warum der schmachtende Goethe von seiner 1803 auf Kurlaub weilenden Christiane ein Paar „durchtanzte Schuhe“ postalisch anforderte. Was er damit möglicherweise angestellt hat, verrät ein schriftstellernder Zeitgenosse des Geheimen Rates, der de-Sade- Gegner und Früh-Realist Rétif de la Bretonne (1734 bis 1806): „Von der heftigen, ganz abgöttischen Leidenschaft für Colette fortgerissen, wähnte ich sie leiblich zu sehen und zu fühlen, indem ich die Schuhe, die sie eben noch getragen hatte, mit meinen Händen betastete. Ich drückte meine Lippen auf das eine dieser Kleinode, während mir in einem Anfall von Raserei das andere das Weib ersetzte...“

Die Ausstellung läuft bis zum 30. Januar 1994 im Rheinischen Landesmuseum Bonn. Der Katalog, 200 Seiten, 250 größtenteils farbige Abbildungen, kostet 49,50 DM und ist zu bestellen beim Rheinland-Verlag, Abtei Brauweiler, 50259 Pulheim.

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