Sanssouci: Vorschlag
■ „Mit Verlust ist zu rechnen“ von Ulrich Seidl im fsk-Kino
Sepp auf Brautschau Foto: Verleih
Angefangen hat alles mit einer Fahrt durch das Gebiet an der österreichisch-tschechischen Grenze. Er sei auf der Suche gewesen nach einem Film, erzählt Ulrich Seidl, nach einem Film, für den er schon ein paar Ideen im Kopf hatte. Doch dann sei er über die Grenze gefahren, und alles kam ganz anders. Ulrich Seidls Film „Mit Verlust ist zu rechnen“ war nicht geplant. Der Österreicher gesteht offen, der Film sei ihm eigentlich „passiert“. Es war im Winter 1992, als er in einer kleinen, südmährischen Ortschaft auf Paula Hutterová traf.
Paula hat ein kleines Haus ohne fließendes Wasser, ein paar Hühner und Hunde und keinen Mann. Auf der anderen Seite der Grenze lebt der Witwer Sepp Paur, der seit einiger Zeit wieder auf Brautschau ist. Er hat sich die Paula rausgesucht, die ist sauber, und gut kochen kann sie auch. Nur drei Kilometer ist das österreichische Langau vom tschechischen Safov entfernt. Doch in Wirklichkeit liegen Welten dazwischen. Hier der Wohlstand vollautomatischer Küchen, dort die Tristesse einer einsamen Frau, die sich jeden Morgen die Achseln mit kaltem Regenwasser wäscht. Als Sepp mit seiner Umworbenen eine Reise nach Wien unternimmt, ist Paula dort alles gleichermaßen fremd. Über das Deospray im Supermarkt staunt sie genauso wie über den Plastikschwanz im Pornoshop. Es ist eine doppelte Strategie der Verfremdung, die Seidl bei seinem Grenz(über)gang gelingt. Der Ethnologen-Blick schlägt zurück: Die Kamera ist bald als Feldforscherin in Sachen Heimat unterwegs.
Wenn Seidl seine Arbeit als „inszenierten Dokumentarfilm“ bezeichnet, versteht er das bewußt als Tautologie: Dokumentieren ist schließlich eine Spielart des Inszenierens. Zwischen Breitwandkino und cinema direct erstreckt sich der filmische Spagat, den Seidl unternimmt. Er spielt mit vielen filmischen Mitteln: Langen Einstellungen folgen assoziative Bilder, und manchmal sind es auch die Gespräche der Dorfbewohner, die den Film vorantreiben. Dabei wird es irgendwann egal, auf welcher Seite der Grenze wir sind. Sex und Sauferei: Die Themen sind hüben wie drüben dieselben. Am Ende des zweistündigen Films bleibt Sepp ohne seine Paula zurück. Mitten auf der Dorfstraße singt er sich mit einer Schnulze den Schmerz von der Seele, während die Kamera den traurigen Alten in einer langsamen Kreisfahrt umrundet. Andrea Kern
Bis 15.12., je 19.45 Uhr im fsk, Wiener Straße 20, Kreuzberg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen