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SanssouciVorschlag

■ „Frankenstein I“ im Freien Schauspiel Berlin

Normalerweise drehen sich die kleinen, mit Kaffee aus der Thermoskanne geölten Rädchen tadellos, um die große Dienstleistungsmaschine in Gang zu halten. Jedes hat seinen Platz, und alles ist perfekt geplant. Wenn da nicht hin und wieder eines durchdrehen würde. Dann greift ein Kriminalkommissar plötzlich den Zentralcomputer einer Bank mit dem Wasserschlauch an, der Angestellte Bunge weigert sich, seinen Schutzhelm „gegen wellenförmige Fremdbefehle“ abzusetzen, und der Fließbandarbeiter schwärmt davon, wie Lebensmittel ihre hübsch etikettierte Verpackung von innen heraus formen: „Die Margarine träumt sich einer blassen Gurkenscheibe erliegend, die Milch ahnt ihren Ursprung im Anblick der glücklichen Kuh.“

Wolfgang Deichsels „Frankenstein I – Aus dem Leben der Angestellten“ – ein work in progress, an dem der Dramatiker seit mehr als 25 Jahren arbeitet – ist heute 80 Szenen lang. 26 davon hat das Freie Schauspiel Berlin ausgewählt (Regie: Armin Dillenberger). Die kurzen, fragmentarischen Texte hängen nur durch immer wiederkehrende Wahnvorstellungen miteinander zusammen, die gleichzeitig irrwitzig und alltäglich sind. Denn zum einen gehören Menschen, die überall versteckte Sender, gefährliche Strahlen und von außen gesteuerte Maschinenmenschen wittern, zum Alltag der Psychiatrie. Und zum anderen führt das geordnete, gelenkte Angestelltendasein mit einer gewissen Logik in den Wahn, von einer geheimen Verschwörung verfolgt und überwacht zu werden. „Man sieht das am Blick, da müssen Sie drauf achten und sich in acht nehmen, wenn so ein Blick da ist, da heißt es aufgepaßt, dann gehört der auch dazu“, vertrauen die Gehetzten dem Publikum an.

Meisterhaft zeigen die sechs Schauspieler, wie der Wahnwitz in scheinbar harmlosen Dialogen immer mehr zutage tritt, so wie der ganz normale Schreibtisch des Kommissars auf einmal zu einem surrealen Gegenstand wird, weil ein Glas mit einem Kindergehirn darauf steht. Überhaupt spielt das Gehirn eine wichtige Rolle, sogar in einem am Straßenrand gefundenen Hutkoffer entdecken zwei Passanten etwas Klebriges: „Das sieht aus wie Gehirnmasse.“ Der Wahnsinn kommt aus dem Büro, aber er breitet sich aus auf die Familie, die Hausgemeinschaft und die Straße. Nach Dienstschluß jedenfalls. Miriam Hoffmeyer

Heute und ab 26.12. bis 30.1. donnerstags bis sonntags 20 Uhr im Freien Schauspiel Berlin, Pflügerstraße 3, Neukölln.

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