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Vorfahrt für die Langsamkeit

■ Fahrradsternfahrt zum Brandenburger Tor für umweltgerechte und soziale Verkehrspolitik. ADFC: 25.000 TeilnehmerInnen. Agenda-21-Pflichten angemahnt

Verkehr verkehrt: Am Großen Stern in Tiergarten revanchierte sich gestern der radfahrende Teil der Bevölkerung ein bißchen für seine Erlebnisse an den übrigen 364 Tagen im Jahr. Als zum Ende der jährlichen Sternfahrt Hunderte von Radfahrern die Siegessäule umkreisten, gelangten zwei Autos zwischen die pedalgetriebenen DemonstrantInnen. Den Blechkisten wurde vorgeführt, was sonst Radfahrer im Verkehr erleiden: Ausbremsen, Behindern, Abdrängen und dazu der Ruf „Motor aus!“ Verwirrt flüchteten die Autos an den Straßenrand.

Unter dem Motto „Berlin fährt Rad“ hatten der Fahrradclub ADFC und die Grüne Liga zu der Veranstaltung aufgerufen. Zu Beginn der bundesweiten Woche „Mobil ohne Auto“ genossen die RadfahrerInnen Vorfahrt für die Langsamkeit: Ruhig, vorsichtig, spaßvoll. In die Freude mischte sich eine gute Portion Schadenfreude: Denn die Autofahrer standen an den Straßen Spalier, kochten in der Sommerhitze und schüttelten hin und wieder die Fäuste.

Von zehn Punkten aus bewegte sich der Fahrradzug in Richtung Innenstadt. Der ADFC zählte 25.000 Teilnehmer, die Polizei sprach „bis zum Mittag von 3.000 Radlern“. Doch da hatte sich der größte Zug über die Avus noch gar nicht in Bewegung gesetzt.

Auf der ehemaligen Auto-Versuchs- und Rennstrecke herrschte Pedal-Power: Vorneweg die Solarautos, dahinter die Drahtesel: Rennräder mit Fahrern im Profi- Trikot neben quietschenden Hollandmühlen, Liegeräder neben dem Familienausflug mit Tigerenten-Rad und Kinder-Anhänger, Tourenräder und alle Arten von „Bikes“. Alle paar hundert Meter wurden auf der Standspur Reifen geflickt oder Ketten gerichtet. Zu den Klängen der „Kraftwerk“-Musik „Fahrn, fahrn, fahrn auf der Autobahn“ ging es tatsächlich ein bißchen zu wie auf deutschen Autobahnen: Rechts die Familienkutschen, links die Raser. Selbst einen Geisterfahrer mußte die Polizei, die ansonsten dem Treiben entspannt zusah, auf die richtige Spur scheuchen.

Am Brandenburger Tor wartete das „1. umweltfreundliche Volksfest“, wie es Corinna Seide von der Grünen Liga bezeichnete: „Wir machen keinen Lärm und halten den Pariser Platz sauber. Schließlich geht es nicht nur ums Fahrrad, sondern auch um die Lokale Agenda 21.“ Zwar gebe es in einigen Bezirken, angestoßen durch Umweltschützer, gute Fortschritte bei der Erstellung von Kriterien für eine zukunftsfähige und lebenswerte Stadt. Doch die Gesamtbilanz Berlins zur Umsetzung der Rio-Beschlüsse sei „sehr traurig“: Der Bericht zur Umsetzung der Beschlüsse werde nicht mehr vor der Sonderversammlung der UNO zu diesem Thema am 23. Juni in New York fertig.

Auch für Benno Koch vom ADFC war die Sternfahrt mehr als ein Happening. Ausdrücklich lobte er die Kooperation von Verkehrssenator Jürgen Klemann (CDU), der sich persönlich für die Freigabe des Pariser Platzes und der Avus eingesetzt habe. Die Kritik an der Verkehrsverwaltung schob Koch allerdings gleich nach: „Wir fordern endlich die Durchsetzung des beschlossenen Velo- Routen-Konzeptes und einen eigenen Haushaltstitel für den Radverkehr“. Außerdem müsse Klemann klarmachen, wie er sein Ziel verwirklichen wolle, den Radverkehr von jetzt sechs Prozent des Verkehrsaufkommens bis zum Jahr 2000 zu verdoppeln und bis zum Jahr 2010 zu vervierfachen. Schließlich, so Koch, gebe es in Berlin gute Voraussetzungen und einen enormen Bedarf für fahrradfreundliche Politik: Insgesamt gebe es schließlich 2,5 Millionen Räder. Davon machte die Demonstration gestern gerade mal ein Prozent aus. Bernhard Pötter

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