: Vor der Wahl erst den Sohn fragen
■ Früher, so eine Seniorin in einem Potsdamer Altenheim, kannte man die Politiker der Stadt – wer kandidiert, ist oft nicht bekannt
Zu den 200 Senioren im Potsdamer Altenheim der Arbeiterwohlfahrt kommt die Wahlurne direkt ins Haus. Doch wer für das Stadtparlament kandidiert, wissen die Alten noch nicht so recht. „Ich bin für Helmut Kohl“, meint der 92jährige Hans D., „der ist standfest, hat Erfahrung und ist ein hervorragender Staatsmann.“ Leider will Helmut Kohl nicht Oberbürgermeister von Potsdam werden. Eine „jüngere“ Frau, 86, will vor der Wahl erst einmal ihren Sohn fragen, für wen sie denn stimmen soll. Und der witzige Alfred N., den viele hier auch Harald Juhnke nennen, kann sich „einfach nicht mehr erinnern“, bei wem er 1990 denn sein Kreuzchen gemacht hat.
Am Ende eines langen, sterilen Ganges im ersten Stock des Altenheimes sitzen drei weißhaarige Damen auf einer Couch. Sie sitzen hier jeden Tag, bis zum Mittagessen um 12 Uhr. Seit der Wende hat sich für sie nicht viel geändert, „nur das Taschengeld ist höher geworden“, sagt die Frau in der Mitte: 225 Mark. Die restliche Rente werde direkt an das Altenheim überwiesen, knapp 1.700 Mark. Früher habe man die Potsdamer Politiker besser gekannt, meint die Dame rechts auf der Couch. Die Frauen beklagen sich, noch nicht einmal einen Wahlzettel gesehen zu haben. Aber einen Ratschlag will die Dame in der Mitte dem neuen Oberbürgermeister mit auf den Weg geben: „Kennenlernen, sehen lassen und aufklären.“
Leo von Braunschweig, mit 88 noch einer der Jüngsten im Seniorenheim und Mitglied des Heimbeirates, hat zum ersten Mal 1927 in der Weimarer Republik gewählt. „Deutsch-national“, erzählt er nicht ohne Stolz. 1933 schwenkte er dann auf „preußisch schwarzweißrot“ um, dann stimmte er der „Einheitsliste“ zu, und 1946 entschied sich von Braunschweig für die FDP. Danach kam fast 40 Jahre lang wieder die „Kombinationsliste“ mit einem Kreuz, und am kommenden Sonntag wählt der gepflegte Herr mit Schlips und Kragen „natürlich die SPD“. Den Wandel von deutsch- national zu den Sozialdemokraten erklärt er mit einem Stefan-Zweig- Zitat: „Es ändert sich die Zeit, wir ändern uns mit ihr.“
Nur wenige Fotos erinnern in von Braunschweigs „Einbettraum“ an die alten Zeiten. Stolz zeigt er auf die etwas vergilbten Aufnahmen seiner Schwester und der Mutter. In seinem Zimmer, in das gerade ein Bett, ein Schrank, ein Tisch und ein Stuhl passen, fühlt sich von Braunschweig wohl. „Dies ist ein wundervolles Heim“, sagt er über den sechsstöckigen Plattenbau. Der Standard sei weit über dem Altenheim-Durchschnitt. „Das Essen ist in Ordnung.“ Der Mann ist zufrieden, will den Verwandten nicht auf den Wecker fallen. Und wenn es ihm doch einmal zu eintönig ist, dann entflieht er in die städtische Bibliothek und liest Tageszeitungen. „Die taz kenn' ich auch“, freut er sich. – Die Frau links auf der Couch am Ende des langen Ganges hat niemanden, der sie beraten kann. Zudem hört sie schlecht. Sie weiß nicht einmal, welche Parteien antreten. „Die SED?“ fragt sie unschuldig. „Nein, der Gramlich kandidiert doch“, weiß eine andere. Und meint damit den amtierenden Oberbürgermeister von der SPD, den sie aber nicht leiden kann. „Der kann nicht reden, sagt mein Sohn. Und ein Bürgermeister muß doch sprechen können.“ Womit im Altenheim zu Potsdam bewiesen wäre: Wer die Senioren gewinnen will, muß die Söhne überzeugen.
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