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Von wegen armes Theater

■ Das Market Theatre und Peter Brook waren mit „Woza Albert!“ in Berlin

Eine Schere hat er nicht. Der Friseur schneidet Haare mithilfe der mittleren Fingerknöchel, mit gekrümmter, zuckender Hand fährt er seinem Kunden über den Kopf, auch die Geräusche, die die Schere macht, produziert er selbst. Ein vertrackter Rhythmus, zwei gegen drei, man könnte drauf tanzen, einen schnellen afrikanischen Tanz. Gleichzeitig unterhalten sich die beiden: darüber, warum der schwarze Friseur keinen Salon hat und seinen Beruf auf der Straße ausüben muß, darüber, was wäre, wenn Jesus noch einmal auf die Erde käme, zu ihnen, dem Friseur und dem Kunden, nach Südafrika, ins Land der Apartheid. Jesus, sagen sie, wäre auch ein Schwarzer, er hieße Morena, und er würde dem Friseur einen feinen Salon mit vielen Spiegeln beschaffen. Das Scherengeräusch, die zuckende Bewegung sind Teil des Dialogs, der auf französisch geführt wird, aber afrikanisch klingt - eine rhythmisierte Silbenfolge, eine Sprechopernszene. Mit Jesus-Morena jedoch verhält es sich wie mit der Schere: er ist da und zugleich nicht da. Die beiden sprechen über ihn und später sogar mit ihm, zu sehen ist er nie. Noch hat der Friseur keinen Salon, also hält er seinem Kunden den Deckel der Blechtonne vors Gesicht. Das ist der Spiegel.

Man nennt es „armes Theater“. Die Autoren des Stücks, Percy Mtwa und Mbongeni Ngema, hatten Grotowsky gelesen und Peter Brooks „Der leere Raum“, sie hörten auf zu rauchen und zu trinken und lasen die Bibel. Nach diesen Hinweisen zur Entstehung von „Woza Albert!“ im Programmheft war ich gefaßt auf politisch-sozialkritisch-frommes Theater. Aber dann treten auf: Mamadou Dioume und Bakary Sangare, zwei Schauspieler vom Market Theatre Johannesburg. Sie bestreiten das ganze Stück. Nicht nur daß jeder viele Rollen spielt mal sind sie zwei Schwarze auf Jobsuche, mal ein schwarzer Arbeitsloser und ein weißer Polizist, mal eine alte Frau und ein Straßenverkäufer, mal zwei weiße Soldaten im Hubschrauber oder ein weißer Ziegelsteinfabrikant und sein schwarzer Angestellter, und der weiße Fabrikant äfft den schwarzen Arbeiter nach, also ein Schwarzer spielt einen Weißen, wie er einen Schwarzen spielt. Sie spielen auch noch den Zug, in dem sie sitzen, die Schere und den Hubschrauber, die Fliegen auf dem Fleisch und die Essensreste in der Mülltonne. Das ist amüsant und komisch, Pantomime, Clownerie - wie Kasperletheater. Aber es ist, wie gutes Kasperletheater, nicht nur unterhaltsam. Die beiden sind immer mehr als nur die eine Figur, sie sind zugleich die andere, die sie vorher gespielt haben oder als nächstes mimen werden, und sie sind zudem noch das, was die Figur umgibt, was sie zu dem macht, was sie ist: der Ort, an dem sie sich befindet, das Gefährt, in dem sie sich bewegt, der Stock, der sie schlägt. „Übrigens ist die Erfahrung eines jeden Menschen erbärmlich unvollständig (...) Ein Theater von irgendeiner Bedeutung muß mehr widerspieglen als nur die Welt eines einzigen Menschen, so faszinierend seine Obsessionen auch sein mögen“, sagt Peter Brook.

„Woza Albert!“ dauert eineinhalb Stunden, die Verwandlungen geschehen mit rasender Geschwindigkeit. Die beiden Schauspieler schwitzen und spucken, nach Minuten schon tropft es von ihren Gesichtern, man sieht: sie arbeiten schwer. Paradoxes Theater: Selten wird mit so wenig Mitteln so viel Illusion gezaubert und doch ist jede Sekunde unmißverständlich klar, daß alles ja nur Theater ist. Der Schweiß ist der des Schauspielers Bakary Sangare und zugleich der des unter Südafrikas Sonne schwitzenden Friseurs; dennoch ist eine Verwechslung unmöglich.

Ähnlich ist es mit den Requisiten. Klassische Theater -Requisiten gibt es keine, kein Pappmache, kein Kostüm. Eine fast leere Bühne, eine Holzpalette, zwei Blechtonnen, zwei Stöcke, Ziegelsteine, Zeitungspapier und zwei Tuben weiße Farbe (vielleicht ist es auch Zahnpasta). Wenn einer einen Weißen spielt, malt er sich die Nase weiß, hinterher wischt er sich das Weiße wieder ab. Der Stock ist mal Hubschrauberflügel, mal Mikrofon, mal Telefon, und doch bleibt er immer ein Stock, mit dem man geschlagen werden kann. Für die Szene mit der Atombombe über Kapstadt (weil Morena anders nicht totzukriegen ist) brauchen die beiden zwei, drei Minuten; in einem Staatstheater hätte sie einen Akt lang gedauert, mit Vorhängen und Umbauten und simuliertem Atompilz. „Woza Albert!“ ist das beste Argument gegen subventioniertes teures Theater.

Das Stück beginnt damit, daß einer verhaftet wird, weil er Gitarre spielt, die Musik macht er mit seiner Stimme, aber er hört damit nicht auf, als er im Knast sitzt. Die beiden singen und trommeln, indem sie sprechen, es gibt Sequenzen und Kadenzen, Synkopen und Auftakte und Crescendi. Vielleicht liegt es nur daran, daß sie die Konsonanten exzessiver artikulieren als die Vokale, daß ihr Sprechen zugleich ein Schnalzen ist, ein Fauchen oder Trommeln, vielleicht machen die Konsonanten von selbst den Rhythmus, und wir könnten alle so sprechen, wenn wir nur wollten. Das Stück endet damit, daß Jesus-Morena die südafrikanische Opposition wiederauferstehen läßt, Albert Luthuli, Steve Biko, Ruth First ... Da ist es dann doch, das hohle Theaterpathos. Im Gesang vorher, in dem nie von ihnen die Rede war, waren sie lebendiger.

chp

Mehr über Brooks Afrika, über die „Kunst des Lauts“, über Oper, Shakespeare und vieles andere findet sich in den „Wanderjahren“ von Peter Brook: Schriften zu Theater, Film und Oper 1946-1987, Alexander Verlag, Berlin 1989, 343 S., 48 DM

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