Von der Sinnlichkeit auf den Friedhöfen

■ Ein Spaziergang über Friedhöfe im Osten und Westen Berlins

Kennst du den kühlsten Platz in der Stadt? Auf'm Friedhof ist es kühl, und weißt du warum? Da liegen doch all die prächtigen kühlen Grabsteine. Hast du schon jemals auf so 'nem Grabstein gelegen, Dolores? Und all den schönen kalten Marmor auf der Haut gespürt?“ Sam zu Dolores, „In der Hitze der Nacht“

In der Hitze der Berliner Tage, vom Redakteur mit dem aufmunternden Attribut versehen, du hättest sowas Nekrophiles, machst du dich auf die Suche nach dem Tod. Er begegnet dir sofort: Die Abgase der Autos bringen dich fast um, der Lärm der Straßen rüttelt an deinen Nerven, das Stop -and-go des Autobusses, vorbei an halbtoten Straßenbäumen, läßt dich über die Apokalypse meditieren. Und dann gehst du durch eine Maueröffnung, und da, wo die Toten versammelt sind, empfindest du plötzlich Sinnlichkeit und Leben.

Was dir auf dampfendem Asphalt als unverhüllte sexuelle Begierde entgegenhechelte, wird hier zur sanften Erotik. Die Bäume rauschen ganz leise und das Sonnenlicht flirrt durch die Äste. Es bescheint die Bank, auf der du der vier Kinder Hoffmann gedenkst, die in einer anderen Zeit innerhalb weniger Tage an der Cholera gestorben sind. Die ganze für die Töchter gesparte Aussteuer konnte nun wohl in einen prächtigen Jugendstilaltar investiert werden. Gegenüber steht der von Schadow selbst gemeißelte Stein für sein Familiengrab. Doch weil auch hier der allgegenwärtige lebendige Tod am Sandstein nagt, hat ihm eine mitleidige Seele ein grausiges Zinkdach verpaßt. Die Negation der Ästhetik ist bestechend, der Anblick befreit zum Lachen. Unter lichten Birken wandelst du wie in einem russischen Theaterstück. Wir sind auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof. Doch nicht von Brecht und Weigel wollen wir reden, denen jemand, wie zum Hohn preußisch exakt, Fleißige Lieschen aufs Grab gestülpt hat; auch nicht von Heinrich Mann oder dem Eisenbahnindustriellen. Vielleicht aber von dem Friedhofsgärtner mit dem ruhigen Gesicht und der Informiertheit eines Who's-Who-Lexikons, der die 167 alten Bäume auf dem kleinen Friedhof liebt, sich aber doch nicht so ganz mit ihrem Nährstoffbedarf versöhnen kann, weil sie den Fleißigen Lieschen und den Koniferen auf den Gräbern den Garaus machen. Und so schnippelt er denn hier und da an den Wurzeln der großen Bäume und versucht im Lot zu halten, was nicht ins Gleichgewicht zu bringen ist.

Gleich nebenan liegen die mit den klangvollen fremden Namen. Ein Drittel der Berliner Bevölkerung war vor hundert Jahren hugenottischer Abkunft; auch hier Stille, doch sind sie fein säuberlich getrennt von den anderen durch eine hohe Mauer.

Und weil deine Aufgabe an dem Tag nicht ist, der Sinnlichkeit von kühlem Marmor auf der Haut nachzuspüren, begibst du dich wieder in die brodelnde Hektik, um einen unprätentiöseren Ort aufzusuchen. Abseits der schnellen Straßen, zwischen Pappelallee und Lychener Straße, ist bereits der Tod der Toten eingekehrt. Niemand mehr pflegt diesen Friedhof, die Grabsteine sind umgestürzt worden. Die Genossin Agnes Wabnitz ruht hier, deren Zier „Edelsinn und Biederkeit“ war, die auf ihrem Panier „Wahrheit und Gerechtigkeit“ trug und deren Losungswort war: „Freiheit du siegst“. Wie tröstlich. Und dann, merkwürdig, mittendrin zwischen all diesen umgestürzten Steinen an diesem verlassenen Ort ein kleines unbeschädigtes Grab, das einzige, dessen Stein senkrecht steht, die Dauergrünpflanze mit weißem, in die Erde gesteckten Bruchmarmor eingefaßt.

Martha Feldner, geb. 17.3.1902. 88 Jahre müßte sie jetzt sein; lebt sie noch? War sie es selbst, die den Grabstein wieder aufgerichtet hat, oder haben die Friedhofsschänder in einem letzten pietätvollen Anflug diesen hier stehenlassen, weil noch nicht vollendet ist, was angekündigt wurde? Nach allem Anschein wird Martha Feldner hier niemals beerdigt werden, denn der Friedhof ist praktisch schon aufgelöst. 1970 hat die letzte Beerdigung stattgefunden; in den nächsten Jahren sind auch die dem zuletzt hier Bestatteten zugestandenen 25 Jahre abgelaufen, und man wird den Friedhof einebnen. Zur Grünanlage? Zum Wohnungsbau? Was mag Martha Feldner empfinden, so sie noch lebt? Kommt sie noch manchmal hierher? Wird man ihre Angehörigen mit umbetten, wenn man sie auf einem anderen Friedhof beerdigt? Oder wird sie, entgegen der wohl weiland mit ihrem Mann abgesprochenen Planung, ganz allein liegen müssen irgendwo?

Und dann nahm ich doch wieder Platz auf kühlem Marmor, und nebenan spielte ein Kind im engen Hof Ball, und von der Straße drangen nur ferne Geräusche herein; manchmal sah ich das Dach der Straßenbahn über die Friedhofsmauer hinweg. Und an diesem Ort des doppelten Todes war noch stärker das Gefühl des Lebens und der Glückseligkeit und der prickelnden Wärme, die kühler Marmor auf der Haut verursacht.

Wovon noch reden? Von der Banalität, auf dem Weg zwischen diesem und dem Jüdischen Friedhof zum erstenmal Konopkes Currywurst gegessen zu haben? Natürlich ist es pietätlos, aber war es nicht wunderbar, dort zu stehen und Cola aus der Dose zu trinken?

In der Schönhauser Allee liegt der Jüdische Friedhof, und hier ändert sich unsere Geschichte. „Ein jüdischer Friedhof bietet dem fremden Besucher wenig Anziehendes. Es ist nur die düstere Seite des Todes; er verhüllt nichts durch freundlichen, zu den Sinnen sprechenden und sie beruhigenden Schmuck“, so Julius Rodenberg 1891. Nicht mal Sonnenlicht fiel durch die Bäume. Und in meiner Hilflosigkeit, zu beschreiben, was vorgeht in mir auf einem jüdischen Friedhof, zitiere ich Heinz Knobloch, der über Moses Mendelssohn schrieb; und dessen Buch beginnt mit den Worten: „Mißtraut den Grünanlagen“.

„Berlin, wir wissen es, hätte einen jüdischen Friedhof zeigen können wie Prag. Nicht so alt, nicht so tiefgründig, aber als Kulturdenkmal. Berlin besaß manches. Hätte es bewahren können. Hat es endgültig verloren. Liegt das an den Bewohnern? Keine Antwort. (...) Die Tafel, die der Enkel (Moses Mendelssohns, d.R.) in achter Generation setzen ließ, hat in den knapp hundert Jahren gelitten (...) Wie wenn nun heute wieder ein Enkel auf den Gedanken käme, eine Tafel zu stiften, es ist noch genug Platz an der Ziegelmauer. Nun wäre es die elfte, zwölfte Generation. Aber die gibt es nicht mehr (...) Wer konnte ahnen, daß außer den lebenden Menschen ein ehemaliger Friedhof gefährdet war? (...) Andererseits was nützt es, wenn sich das neue Grab mit deutscher Gründlichkeit ganz genau über dem alten befindet, das mit deutscher Gründlichkeit verwischt worden ist.“

Hier ist die Vorstellung, es könnte kühler Marmor mit Haut in Berührung kommen, absurd. Hier stehst du und bist so sehr in der Wirklichkeit, daß du aus ihr flüchten mußt, um es auszuhalten.

Aber die „deutsche Gründlichkeit“ nehmen wir noch etwas mit auf unseren weiteren Spaziergängen. Nach denen, die die jüdischen Friedhöfe schleiften, kamen welche, die alles genau andersrum machen wollten. Der „bevorzugte Begräbnisplatz für deutsche Soldaten und Offiziere“, denn auch diese hatten ihren Platz wie die Hugenotten und die Juden, liegt am Spandauer Schiffahrtskanal, geraderüber vom Hamburger Bahnhof. Feld I wurde Ende der Sechziger zum Parkplatz, auf den Feldern E, F, G, B und H wurden in den Jahren '72-'75 alle Gräber geschleift; die Mauer verlief direkt zwischen Friedhof und Kanal, die Grenzer brauchten Platz für ihre Arbeit. „Die Auswahl der zu erhaltenden Grabmale unterlag in erster Linie ideologischen Richtlinien“, sagt die seit dem 1.8.1990 geltende Denkmalsschrift. So ist es denn mit der deutschen Gründlichkeit, nichts bleibt außer ihr; nicht mal die Gräber sind vor ihr sicher. Und was gestern vernichtungswürdig war, hat heute Denkmalsschutz. Und morgen ist wieder alles anders.

Aber auch hier ein Trost, was komisch Lebendiges. Die Frau, die den Friedhof schon bewohnte und betreute, als er noch strikt verbotenes Grenzgebiet war, geht rauchend mit ihrem Hund durch die Gräber und erzählt von den Toten. Ihr Hund, ein zotteliger Schäferhundabkömmling, war ehemaliger Soldat der NVA. Man hat ihn nicht abrichten können zum Gehorsam, er hat gespielt und nicht gespurt. Und sollte dann abgeschafft und eingeschläfert werden. Und nun hat sie ihn und er setzt den Kaninchen nach und fängt Fliegen, und zwischen all diesen toten Soldaten und Generälen und Kämpfern lachst du über diesen unbedrohlichen ehemaligen Soldaten und freust dich, daß er Fliegen fängt.

Es wäre noch zu erzählen vom russischen Friedhof und vom islamischen, in dem alle Grabsteine im gleichen Winkel nach Mekka blicken. Aber wir kehren um der Rundung dieser Geschichte willen nochmal zurück in die Innenstadt, zur kühlen Oase für Land- und Gartenlose, nach Kreuzberg zum Beispiel, vielleicht zum Luisenstadtfriedhof in der Bergmannstraße. Eine Stadt im Kleinen, im Tod. Die Reichen oder die, die es nötig hatten, haben Mausoleen und Paläste von prächtigen Ausmaßen. Und wunderschöne sanfte Frauen oder Löwen oder allegorische Fabelwesen schützen ihre Gräber. Und doch, es ist dort, wo dein Schritt verhält, wo das Bedürfnis nach kühlem Marmor auf der Haut entsteht. Die kleinen Urnengräber, eins wie das andere, gleich im Tode, sind langweilig; ein Stein so häßlich wie der andere, ein Fleißiges Lieschen so traurig wie das nächste. Kein Platz mehr für Erotik dort.

Sigrid Bellack