Endlich auch in Hamburg: Claude Lanzmanns Film über den Aufstand im Vernichtungslager Sobibor am 14. Oktober 1943 : Von der Gegenwehr
Ganz am Anfang steht scheinbar der Bruch mit den eigenen Regeln: Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr beginnt mit einer Fotografie, auf der SS-Männer zu sehen sind, die vor den Särgen ihrer getöteten Kollegen salutieren. Ein Bild, das klar macht, dass es sich hier nicht um Zweitverwertung handelt: Unter den mehr als 250 Stunden Material, das Claude Lanzmann in den 70er Jahren für seinen neuneinhalbstündigen Film Shoah zusammengetragen hatte, befand sich auch der Hauptbestandteil seines neuen Films, ein Interview mit Yehuda Lerner, beteiligt am einzigen erfolgreichen Aufstand in einem Vernichtungslager. Doch in Shoah findet sich nirgends historisches Bildmaterial. Die Darstellung der Realität des Holocaust benötigt und will dort keine Bildbeweise. Sie entsteht in der Beziehung zwischen der dokumentierten Erinnerung der Zeugen, den Spuren, die Lanzmann an den Orten der Vernichtung findet, und dem Publikum.
In Sobibor, das sagt die Fotografie am Anfang, ist der Fokus der dokumentierten Erinnerung anders als in Shoah, auch wenn es bei diesem einen Beweisfoto bleibt. Wo Shoah von der Vernichtung und von einer Gegenwart spricht, die vom Tod geprägt ist, spricht Sobibor von der Gegenwehr. Das Bild, auf dem die Särge der SS-Männer zu sehen sind, stellt also fest, dass die „Wiederaneignung von Macht und Gewalt durch die Juden“ (Lanzmann) unter anderem 1943 in Sobibor begann, wo es einer Gruppe jüdischer Kriegsgefangener der Roten Armee gelang, beinahe alle anwesenden SS-Männer in einer konzertierten Aktion zu töten, 300 Häftlingen die Flucht zu ermöglichen und damit die Deutschen zu zwingen, das Lager aufzugeben.
Wie Yehuda Lerner nach Sobibor kam und wie es dazu kam, dass er schließlich am 14. Oktober 1943 dem SS-Mann Greischütz mit einer Axt den Schädel spaltete, darüber gibt er Lanzmann auf seine Fragen 1979 Auskunft, auf Hebräisch und stets mit einem etwas nervösen Lächeln im Gesicht. Dieses Übersetzen der Erinnerung an physische Realitäten in gesprochene Worte spiegelt sich zuerst im Sprechen der Konsekutivdolmetscherin, die Lerners Bericht auf Französisch wiedergibt, und noch einmal in den deutschen Untertiteln.
Aus neun Konzentrationslagern konnte Lerner fliehen, bevor er Anfang September 1943 nach Sobibor verschleppt wurde. Nur selten ist während dieses Teils seines Berichtes tatsächlich Lerner selbst zu sehen. Stattdessen sehen wir die Orte, von denen er spricht, wie sie in den späten 90er Jahren aussehen. Erst als es um die konkrete Durchführung der unwahrscheinlichen Heldentat geht – das Töten der SS-Männer durch die jüdischen Häftlinge, von denen geglaubt wurde, sie seien ihrer Subjektivität beraubt – erst dann füllt Lerners Gesicht wieder das Bild.
Für den Erfolg des Aufstandes war es wichtig, dass er größtenteils von gefangenen Rotarmisten geplant und durchgeführt wurde, da diese sich in einem etwas besseren physischen und psychischen Zustand befanden als die übrigen Häftlinge. Ebenso entscheidend war aber die absolute Zuverlässigkeit der Deutschen, das betont Lerner wieder und wieder. Wäre nicht der erste SS-Mann pünktlich um 16 Uhr in der Schneiderbaracke erschienen, um seinen neuen Mantel anzuprobieren, wäre dem für 16 Uhr 05 einbestellten zweiten vielleicht etwas aufgefallen.
Sobibor erzählt tatsächlich eine, wie Lanzmann es nennt, mythische Heldengeschichte. Die ausführliche Schilderung der eigentlichen Tötung bildet eine erlebbare Klimax im Film. Am Ende von Sobibor kann aber trotzdem nicht dieser gelungene Akt der Befreiung stehen. Stattdessen verliest Lanzmann eine Liste der Transporte nach Sobibor.
Viel zu lesen war darüber, wo Sobibor in Lanzmanns eigenem Werk steht oder wie er sich zu den Produkten von Spielbergs Shoah Foundation verhält. Wenn der Film aber jetzt, Monate nach seiner Premiere, in Hamburg läuft, ist vor allem seine Stellung zum wichtigsten medialen Erinnerungsthema des Jahres entscheidend: Damit „Feuersturm“-Filmprogramme mehr leisten können als die Perpetuierung des Selbstmitleids der Tätergeneration, bedarf es hier gerade dieses Films.
Georg F. Harsch
Termine siehe Kinoprogramm