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Von Stuarts Hand in den Mund

Beim teilweise müden EM-Auftakt-1:1 gegen die Schweiz deutet sich an, was Englands Problem sein wird: das Nichtgewinnen  ■ Aus London Peter Unfried

Im Mutterland des Wortspiels geht so eine Metapher selbstredend leicht von der Hand. Achtung: Der gute alte Stuart Pearce hat den Schweizern das Spiel und den 1:1-Ausgleich sozusagen herübergereicht. Ausgehändigt. Et cetera.

Ausgerechnet Stuart, wieder Pearce! Der archetypische Vertreter des All-England-Boy, der Außenverteidiger wurde. Wenn so einer inmitten des Jahrmarkts der Fußballunternehmer sein Stimmchen erhebt und sagt, er spiele Fußball für sein Land? Muß man das unbesehen glauben. Der gute alte Stuart Pearce (34) hat ja bekanntlich schon damals ... 1990 ... WM-Halbfinale gegen Deutschland! „Ich habe damals einen Elfmeter verschossen“, sagte Pearce resigniert, weil er die Anspielung, in der immer auch ein Vorwurf steckt, gründlich satt hat. „Und der Schiedsrichter hat heute einen Elfmeter gegeben.“ Was, könnte einer fragen, hätte Manuel Diaz Vega auch anderes tun sollen, nachdem der Linksverteidiger im Strafraum nicht nur die Arme hochgerissen hatte, sondern Marco Grassis Lupfer dann auch noch nach unten gedrückt hatte. Instinktiv, natürlich, aber Vega stand gleich neben Pearce, und selbst der gab zu: „Ich habe Hand angelegt.“

Jedenfalls: ist die Sache mit dem Elfer eigentlich prima. Schließlich erlaubt sie den Engländern, nun auch mit dem Schicksal zu hadern. Und nicht nur mit dem Team. Das hat nämlich im Wembley-Stadion zwar eine überraschend gute Halbzeit hingelegt – dann aber einfach aufgehört weiterzuspielen. „Ich dachte eigentlich“, sagte Grasshopper Johann Vogel hinterher, „die machen 90 Minuten lang Druck.“ Aber dann zog sich der zuvor offensive Sforza zurück – und Talent Vogel (19) sah sich und die Schweiz plötzlich das Spiel bestimmen, anstatt wie in der ersten Hälfte nur hinter Paul Gascoigne herzurennen. Das war im übrigen nicht mehr nötig: Gascoigne war nach beeindruckendem Beginn zu einem totalen Stillstand gekommen – und mit ihm zwangsläufig ganz England.

„Ich glaube, es wäre nicht fair, zu sagen, daß es an ihm lag“, sagte Team-Manager Terry Venables. „Nicht nur er, die meisten Spieler hatten keine Luft mehr.“ Das große Rätsel, das die Insel beschäftigt, ist nun: Wie, um Gottes willen, kann England keine Luft mehr haben? Man könnte auch differenzierend sagen: Die anderen hingen bloß in der Luft, da der Lenker nicht mehr lenkte, der Denker nicht mehr dachte, der Zuspieler nicht mehr zuspielte. England kann, wie sich in Halbzeit eins andeutete, sehr balanciert spielen, ökonomisch wohl gar, und ansatzweise erfolgreich, da die Außen Darren Anderton (rechts) und mehr noch der Liverpooler Steve McManaman dem Spiel Raum und Raumgewinn verschaffen. Auch das meist als sich vorwärts bewegendes Dreieck praktizierte flinke Kurzpaßspiel durch die Mitte sah da noch interessant aus.

Doch die Balance ist natürlich wacklig – und alles hängt von dem ab, der ausbalanciert. Alan Shearers 1:0 aber war ein wirklich superbes Tor. Zweitens war es exakt das Tor, das aus Englands Spiel zu folgen hat, wenn es Sinn machen soll. Gascoigne war der Ausgangspunkt, Ince legte in die Gasse, Shearer war der Erlöser. Auch der Erlöste. „Fast zwei Jahre Frustration habe ich in diesen Schuß gelegt“, sagte der zeitweilige Wunderjunge des englischen Fußballs danach. Es machte tatsächlich mächtig Wumms. Einmal in Pascolos Tor – dann seufzte Wembley vor Rührung und Begeisterung. Das hätte die Geschichte des Spiels sein sollen! Shearer trifft nach über tausend Minuten ohne Länderspieltor – nun wird alles gut.

Wird nun alles schlecht? Was, wenn Shearer nun wieder zwei Jahre wartet? Am Samstag muß man gewinnen – und eigentlich gibt es dafür keinen besseren Gegner als die Schotten. Doch, Vorsicht. Das hätte man mit etwas schlechtem Willen über die Schweizer auch sagen können. Das Team sah eine Halbzeit lang extrem unbalanciert aus, ganz so, als fühle es sich uneins mit den von Trainer Artur Jorge auferlegten Ideen. Neben dem Mittelfeld galt dies insbesondere für die fragile Zweierkette Vega-Henchoz und den davor etwa im leeren Raum agierenden Kapitän Alain Geiger. Und vorne hatte man nur Türkyilmaz.

Andererseits genügte der, um speziell den notorisch stocksteifen Ersatzkäpt'n Adams stocksteif und Stuart Pearce – man muß es sagen – alt aussehen zu lassen. Nicht der späte Strafstoß hätte Türkyilmaz' Lohn sein müssen, sondern jenes Solo davor, mit dem er Pearce dramatisch bloßstellte: Der Querpaß lag drei Meter vor dem leeren Teil von Seamans Tor. Warum Grassi ihn an die Latte knallte? Und warum er von da nicht zu Vogel flog, sondern auf den Schiedsrichter prallte? Ein Rätsel. „Diese Dinge“, sagte Stuart Pearce, „passieren im internationalen Fußball.“

Es ist nicht unwitzig: Beide Teams schöpfen nun Mut. Aus der jeweiligen Schwäche des Gegners. Tatsächlich passiert ja bisweilen auch viel – manchmal im Zeitraum von nur einer Woche. Doch ob so viel passieren kann, daß England – ganz zu schweigen von der Schweiz – Europameister werden könnte? Auf wunderbare, atemberaubende, bisher noch gar nicht ersonnene Weise? „Was wir spielen, ist kein Fantasy-Football“, sagte Terry Venables, „es wird hart, es wird ganz schwer.“

Auf dem Weg zur Reinthronisation des Fußball-Empires lebt England und speziell der nun mächtig gescholtene Stuart Pearce – von der Hand in den Mund. „Das Resultat ist so schlecht nicht“, sagte der unschuldig mit seiner ganzen internationalen Erfahrung aus neun Jahren: „Wir sind noch ungeschlagen.“ Doch das sind auch die Schweizer. Und: Das Problem Englands in relevanter Vergangenheit, Pearce müßte es am besten wissen, war nie das Verlieren. Es war bei allen Turnieren das Nichtgewinnen.

Schweiz: Pascolo - Jeanneret, Geiger (68. Koller), Henchoz, Quentin - Vogel, Sforza, Vega, Bonvin (65. Chapuisat) - Grassi, Türkyilmaz

Zuschauer: 76.000; Tore: 1:0 Shearer (23.), 1:1 Türkyilmaz (82./Handelfmeter)

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