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Archiv-Artikel

Von Hühnern und Betrügern

Töchter – Von Fußstapfen, Erbhöfen und Altlasten (Teil 4)Kinder können nachtragend sein, wenn die Geschichte ihrer Eltern im Dunkeln bleibt. Und nur in wenigen Fällen schweißt es die Familie wieder zusammen, wenn die Vergangenheit mit einem Mal auftaucht

aus Newfield BIANCA KOPSCH

Wenig hat sie gewusst. Kaum etwas geahnt. Vielleicht war die Ahnungslosigkeit ein Segen. Barbara Principe, geborene Wertheim, hat ihr bescheidenes Leben hingenommen, ohne unglücklich zu sein. „Vor der Schule Hühner füttern, nach dem Unterricht Eier einsammeln und Ställe säubern, das war normal“, erzählt die 70-Jährige von ihrer Kindheit. Sie habe hart arbeiten müssen auf der heimischen Hühnerfarm im amerikanischen Bundesstaat New Jersey, etwa zwei Autostunden von New York entfernt. Angestellte konnte sich die Flüchtlingsfamilie aus Deutschland nicht leisten.

Das war einmal anders. Eine Köchin hat es gegeben und ein Kindermädchen. Statt Traktor fuhr der Vater Rennwagen, und zur Jagd ging es aufs Landgut der Familie. Das war damals, in den 30er-Jahren in Berlin, als Barbara noch Bärbel hieß und ihr Vater Günther mit Nachnamen Wertheim – nicht Wortham, wie er sich später in den USA nannte. Damals, als Barbara im Grunewald in der 52-Zimmer-Villa ihres Großvaters spielte, eines jüdischen Kaufmannes und Eigentümers der „Wertheim-Warenhäuser“. In einer verdrängten Zeit, als ihr Vater noch sprach. Doch daran kann sich Barbara Principe kaum mehr erinnern.

Mit der Flucht vor den Nazis im Jahr 1939 kam das Schweigen. „Bei uns zu Hause wurde wenig gesprochen, erst recht nicht über unser Leben in Deutschland“, sagt Barbara Principe. „Mein Vater war ein verbitterter Mann. Er hat alles verloren, das hat ihn krank gemacht.“ Ihr Blick ist offen und klar, sie hat verstanden, nach langer Zeit: Ihr jüdischer Urgroßvater Abraham Wertheim gründete Ende des 19. Jahrhunderts die Wertheim-Warenhäuser, die zu einer der bedeutendsten Kaufhausketten Deutschlands wurden. Seine Söhne und Enkel leiteten die Unternehmen, zu denen Europas größtes und prächtigstes Kaufhaus gehörte: die Berliner Filiale am Leipziger Platz. Ein Prunkbau samt Palmenhaus, einem Saal mit Wandgemälden und Skulpturen und einem Angebot von Luxuskarossen der Marke Maybach bis zu feinsten Stoffen aus China. Die Wertheims gehörten zur feinen Gesellschaft der Hauptstadt – bis die Nazis ihren Besitz in den 30ern „arisierten“ und ein Großteil der Familie aus Deutschland floh. Ausgeblendete Vergangenheit. Verschwommene Bilder von Ballspielen und Dampfbädern sind alles, was sich in Barbaras Principes Gedächtnis von ihrem Heimatland eingrub, als sie mit sechs Jahren Deuschland verließ.

Erst vor wenigen Jahren erfuhr sie das ganze Ausmaß ihrer wohlhabenden Herkunft. Ihr Anwalt hatte nach dem Mauerfall begonnen, Eigentumsfragen in Ostberlin zu recherchieren. Auf einmal konnte sie das Schweigen ihres Vaters verstehen. Bis zu seinem frühen Herztod 1954 mit 52 Jahren hatte er seinen Kindern lediglich von einem „Laden“ erzählt, der seiner Familie bis 1938 in Deutschland gehört hatte. „Natürlich frage ich mich jetzt manchmal, was gewesen wäre, wenn meine Familie nicht um ihre Existenz gebracht worden wäre. Hätte ich ein Leben in Luxus geführt? Wäre mein Vater nicht so früh gestorben?“ Barbara Principe schaut nachdenklich aus dem Küchenfenster ihres roten Holzhauses im Örtchen Newfield, New Jersey. „Mit Sicherheit hätte mich das Wissen um den verlorenen Familienbesitz nicht glücklicher gemacht.“ Wie viel Erinnerung ist nötig, wie viel Vergessen gut? Mit einem Schulterzucken vertreibt sie den Gedanken.

Dass sie in der kleinen Knopf- und Schnallenfabrik ihres Mannes zum Nulltarif Plastikknöpfe sortiert, scheint sie nicht zu stören. Auch nicht, dass sie vorher Tiefkühlerbsen in Plastiktüten einschweißte oder in einer Kartonfabrik am Fließband stand. Trotzdem will sie, dass jetzt Recht geschieht: „Meinem Vater zuliebe, für alles, was ihm angetan wurde.“ Aus diesem Grund klagt Barbara Principe gemeinsam mit ihrem Neffen Martin Wortham, dem Sohn ihres bereits verstorbenen Bruders, vor einem amerikanischen Gericht um ihren Anteil am Erbe der Kaufhausdynastie.

Vor etwa zwei Jahren haben sie die Millionenklage gegen den deutschen Karstadt/Quelle-Konzern eingereicht, zu dem die Wertheim-Kaufhäuser heute gehören. Die amerikanische Presse spricht vom „größten Entschädigungsfall einer einzigen Familie“ in der deutschen Nachkriegsgeschichte – falls es zur Verhandlung kommt. Der Fall liegt zur Zeit beim Bundesgericht Newark in New Jersey, das darüber entscheiden soll, ob ein US-Gericht überhaupt zuständig ist. Die Sache ist verwickelt.

Klagegrund ist nicht die Enteignung durch die Nazis, sondern ein angeblicher Betrug bei der Entschädigung nach dem Krieg: Die verarmten Kaufhausmagnaten, die Brüder Günther und Fritz Wertheim – der eine Hühnerfarmer, der andere seit seiner Immigration in die USA Koch in einer psychiatrischen Anstalt – beantragen 1950 in Deutschland Wiedergutmachung. Doch statt des erlösenden Geldsegens kommt Firmenjustiziar Arthur Lindgens mit der Hiobsbotschaft: Die Wertheim-Kaufhäuser seien so gut wie pleite – ausgebombt, heruntergewirtschaftet oder in der DDR von den Russen enteignet. Für je 20.000 Mark verkaufen die Wertheim-Brüder Lindgens ihre Unternehmensanteile und verlieren damit alle weiteren Ansprüche. Der Traum vom Kaufhausimperium ist aus, zurück bleibt die unbarmherzige Realität eines finanziell ungesicherten Immigrantenlebens.

„Der Deal um die Wertheim-Anteile war Betrug“, behauptet Gary Osen, Anwalt von Barbara Principe. Schon vier Tage vor Vertragsabschluss am 16. August 1951 in New York habe Lindgens die Fusion von Wertheim mit dem Kaufhauskonzern Hertie eingefädelt. Das beweisen angeblich Dokumente, auf die Osen fast 50 Jahre später gestoßen ist. Lindgens verschwieg den Brüdern das Vorhaben, denn für die Fusion der beiden Firmen nur wenige Monate später benötigte er ihre Anteile. Ein Geschäft, bei dem viel Geld floss und das Lindgens zum Aufsichtsratsvorsitzenden der neuen Hertietochter Wertheim machte.

Während Gary Osen von einem Betrug nach der NS-Zeit spricht, behauptet die Karstadt/Quelle AG das Gegenteil: Der Ursprung des Falls liege eindeutig im Nationalsozialismus, daher sei allenfalls der Fonds zur Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern zuständig, aus dem auch Vermögensschäden von Opfern des Nazi-Regimes beglichen werden. Das Stiftungsabkommen zwischen deutscher Wirtschaft und Bundesregierung auf der einen und den USA auf der anderen Seite gewährt deutschen Unternehmen in den Vereinigten Staaten Rechtssicherheit vor Entschädigungsklagen aus der Nazizeit. Dafür haben die Deutschen einen mit 5 Milliarden Euro dotierten Fonds eingerichtet. Ist damit alles abgegolten? Oder wird das Abkommen als Alibi missbraucht?

Der Fall kann sich noch Jahre hinziehen. Es ist ein Gerichtsmarathon, wie bei vielen Entschädigungsklagen, eine komplexe Verschränkung internationaler Politik mit Unternehmensinteressen und Einzelschicksalen. Für die Anwälte eine Herausforderung, für die Opfer eine zermürbende Warteschleife.

Mit 70 Jahren ist die Wartezeit begrenzt: „Ich habe schon mal alle Klageunterlagen an meine Kinder weitergegeben“, sagt Barbara Principe. Sie betrachtet die Fotos ihrer Großfamilie, die zwischen Nippesfiguren und selbstgebastelten Stoffpuppen stehen. „Jeder ist für sein Glück selbst verantwortlich“, sagt sie. Geborgenheit, Wärme, Lachen – so eine Familie hatte sich Barbara Principe immer gewünscht. Ein Wunsch, den ihre Eltern nie erfüllen konnten. Nicht ihre reservierte Mutter, die stets die perfekte Dame gab, nicht mit Fremden sprach und so sehr auf gute Tischmanieren achtete. Deren Leben hinter den Kulissen nur aus Arbeit bestand: kochen, putzen, Hühner.

Ein einziges Mal habe ihre Mutter mit ihnen einen Ausflug in einen Vergnügungspark gemacht, erinnert sich Barbara Principe. Ansonsten wurde wenig gelacht. Auch nicht mit dem Vater, an dem sie als Kind sehr hing. „Immerhin haben wir öfter miteinander geredet, wenn ich ihm auf der Farm geholfen habe: über die Arbeit, die Schule – Familiengeschichte war tabu.“

Ohne die Last einer traumatischen Vergangenheit hat Barbara Principe ihr Leben in die Hand genommen. Mit 18 Jahren hat sie geheiratet, mit 30 war sie bereits Mutter von sieben Kindern, hatte einen fürsorglichen Ehemann, wenig Geld und war glücklich. „Wir haben immer alle zusammengehalten.“

Heute hat sie eine vertraute Beziehung zu den Kindern. „In meinem Haus wurde immer über alles geredet“, erklärt sie. „Und seit unsere Vergangenheit ans Licht kam, ist das natürlich ein Thema, das uns noch enger zusammengeschweißt hat.“ Auch wenn sie das Erbe für ihren Vater bisher nicht zurückholen konnte, ihre Geschichte hat sie der Familie bereits wiedergegeben.