: Von Beiderbecke bis Cecil Taylor
■ Ein Reader zum Jazz, herausgegeben vom Darmstädter Jazzinstitut
Daß Jazz sich an den Universitäten und Forschungsinstituten nicht etablieren konnte und noch immer stiefmütterlich behandelt wird, hängt mit dem vermeintlich niedrigen kulturellen Stellenwert dieser Musik zusammen. Die traditionelle europäische Musikkultur wird dokumentiert und gepflegt, Jazz, die oral tradierte Musik, bleibt außen vor. Der Gießener Musikwissenschaftler und Jazzsaxophonist Ekkehard Jost beschreibt das Dilemma: „Die Abstinenz der europäischen Musikwissenschaft und der mit dieser verbundenen Institution gegenüber dem Jazz steht allerdings in einem eklatanten Mißverhältnis zu der Bedeutung, die diese Musik für die Musikkultur Europas während der vergangenen sieben Jahrzehnte besaß und noch heute besitzt. Nicht nur beeinflußte sie unüberhörbar nahezu sämtliche Stile und Gattungen urbaner Tanz- und Unterhaltungsmusik, auch in weiten Teilen der jeweils zeitgenössischen 'ernsten‘ Musik hinterließ sie ihre Spuren. Sie prägte die Hörgewohnheiten und Präferenzen mehrerer Generationen und bestimmte die musikalische Sozialisation zahlloser Musikerpersönlichkeiten. Insofern ist es keineswegs zu rechtfertigen, daß man - wie ein verbreitetes Klischee lautet - die Dokumentation und Erforschung des Jazz 'sinnvollerweise den Amerikanern überlassen könne oder solle, denn dort käme er schließlich her‘.“
Selbst in Amerika gibt es bislang nur zwei Forschungseinrichtungen, die sich der Aufarbeitung des bisher wohl wichtigsten Beitrages ihres Landes zur internationalen Musikkultur widmen. Die Erforschung des Jazz in Europa, seine schrittweise Herausbildung eigenständiger Spiel- und Stilformen, hat sich jetzt das Darmstädter Jazzinstitut zur Aufgabe gemacht. Grundlage ist das in den letzten Jahren aus der Berendt-Stiftung hervorgegangene Jazzarchiv, bestehend aus einer umfangreichen Bibliothek, Zeitschriftenbeständen, Schallplatten- und Videosammlungen sowie einem Fotoarchiv. Um diese wertvollen Materialien für die Öffentlichkeit besser nutzbar zu machen, soll das Jazzinstitut durch Veranstaltungen auf sich aufmerksam machen.
Den Anfang machte im Dezember letzten Jahres das „1.Darmstädter Jazzforum“, ein Pilotprojekt, das alternierend zu den „Internationalen Ferienkursen für Neue Musik“ alle zwei Jahre stattfinden soll. Initiiert von Ekkehard Jost will die Veranstaltung ein Forum sein für praktizierende Musiker wie Musikwissenschaftler, und sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die „interessierte Zuhörerschaft über den aktuellen Stand der Jazzforschung zu informieren“. Fragen nach Geschichte und Gegenwart des Jazz in Europa, seine Stellung in den Medien und Auseinandersetzung mit stilbildenden Persönlichkeiten der letzten Jahrzehnte sollen jeweils im Mittelpunkt stehen.
Wenn auch das „1.Darmstädter Jazzforum“ an mangelnder Publikumsresonanz litt, Musiker ebenso wegblieben wie Studenten, die Experten also unter sich blieben, so ist doch zu hoffen, daß mit der jüngst in Buchform erschienenen Dokumentation der Forumsbeiträge die unzulängliche Öffentlichkeitsarbeit wettgemacht wird. Der Bogen der Vorträge war weit gespannt von Versuchen einer aktuellen Bestandsaufnahme über Charakteristika des sowjetischen und des DDR-Jazz bis zu Problemen des Jazz-Unterrichts. Dazwischen sind die Fallstudien über Jazz-Größen wie Bix Beiderbecke, Cecil Tayler und Ornette Coleman nachzulesen.
Bert Noglik und Jürg Solothurnmann beleuchten die gegenwärtige Szene, stellten Eklektizismus, Pluralismus und einen Wandel fest. Anhand eines Porträts des Schlagzeugers Vladimir Tarsaov schildert Hans Kumpf, der mehrmals die Sowjetunion in Sachen Jazz bereiste, die spezifische Situation dort. Er stellt die Zentren Moskau, Leningrad, Vilnius und Tallin vor („allenthalben geht es kreuz und quer durch die Jazzgeschichte“) und kommt zum Schluß, daß die Allgewalt der staatlichen Konzertagentur „Gosconcert“ gebrochen ist und sich überall Jazzföderationen bilden.
Über die DDR-Jazz-Realität berichtet Günter „Baby“ Sommer, Schlagzeuger und Free-Jazz-Pionier der ersten Stunde in der DDR. Trotz bürokratischer Bewerbungsprozeduren, Berufsausweisen, Tabellen, Leistungen und Einstufungen blühte die improvisierte Musik fernab der Klischeevorstellung vom Eisler-Weil-Folklore-Jazz auf. Der Jazz war nach Jahren der Verteufelung in die offizielle DDR -Kulturpolitik integriert. Nach der „Wende“, die in atemberaubendem Tempo auch den Jazz erfaßt hat, sind starre Strukturen in Auflösung begriffen, was aber die soziale Sicherheit der Musiker erschüttert - ein unvermeidbarer Nebeneffekt der Demokratisierung. Dennoch setzt Sommer große Hoffnungen in das nun offene Kommunikationsnetz: „Würde man die Parteiabzeichen aller Kulturschaffenden in eine große Metallschüssel tun, ich könnte ein Perkussionskonzept spielen, daß es durchs ganze Elbtal rasselt.“
Während Wolfgang Knauer versucht, das „Modern Jazz Quartet“ als fehlendes Bindeglied zwischen Bebop und Free Jazz zu rehabilitieren, demonstriert Dieter Glawischnig, Leiter der NDR-Studioband, am Beispiel einer Produktion mit dem Wiener Dichter Ernst Jandl, wie „das Gedicht als Weltbild in Kompaktform“ jazzmäßig umgesetzt werden kann. Daß dies gelingt, hat er mit zahlreichen Auftritten bewiesen. Ekkehard Jost widmet sich in einer brillanten Analyse der jüngsten Stilentwicklung Cecil Taylors und geht dessen Wandel in den letzten Jahren anhand von beispielhaften Einspielungen nach. Wer sich auf Taylors hochenergetisches Spiel einläßt, so Jost, gerät unweigerlich unter psychische Hochspannung - physische Erschöpfung ist nicht selten die Folge. “'Fix und fertig‘ zu sein nach einem seiner Konzerte ist insofern durchaus kein pathologisches System, sondern Resultat adäquater Taylor-Rezeption.“
Die dreizehn dokumentierten Kongreßbeiträge, vom kleinen Wolke-Verlag schnell und sorgfältig herausgebracht, werden durch zahlreiche Fotos, Notenbeispiele, Literatur- und Autorenangaben ergänzt. Sie werfen ein bezeichnendes Schlaglicht auf den gegenwärtigen Jazz.
Reiner Kobe
Ekkehard Jost (Herausgeber), Darmstädter Jazzforum . Beiträge zur Jazzforschung. Wolke-Verlag, Hofheim 1990, 237 Seiten, 32 DM.
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