: Vom Wagnis einer neuen Wahrnehmung
■ Wenn ich groß bin, werde ich nicht Lokomotivführer: der Nachwuchs wächst weg und Vatis Fußstapfen verwaisen. Zum dritten Mal präsentiert die Kulturfabrik Kampnagel Tanz- und Theaterprojekte junger Künstler aus ganz Europa
Mit den Vätern hat es bekanntlich schon immer viele Probleme gegeben, auch und gerade in der Kunst. Tom Stromberg zum Beispiel, der in Frankfurt „das TAT“ leitet, das unlängst ins Bockenheimer Depot umgezogene „Theater am Turm“, hatte einen Intendanten zum Vater. Der sagte immer, daß der Zuschauer doch was aus dem Theater mit nach Hause nehmen müsse. „Ja, seinen Mantel“, hat der Tom da geantwortet, und: „Sonst nichts.“ Oder Leander Haußmann, einer jener berühmten „Jungen Regisseure“ in Deutschland und ab kommender Spielzeit Intendant des Bochumer Schauspielhauses, der sich (trotz der Auftritte von Vater Edzard in mehreren seiner Inszenierungen und mit ihm „Bei Bio“ im Fernsehen) allgemein als „vaterlos“ empfindet, als allein- und zurückgelassen von den vorangegangenen Generationen. Das Problem ist alt. „You're still young, that's your fault“, sang Cat Stevens vor auch schon 25 Jahren in „Father And Son“, „it has always been the same, same old story“. Und, besonders bitter: „You'll still be here tomorrow, but your dreams may not“.
Doch darum geht es ja gar nicht mehr. Ob da noch immer „die selbe, selbe alte Geschichte“ abläuft, steht doch sehr in Frage. Der Nach-Wuchs hat sich längst aufgespalten in verzweifelt Nacheifernde und verwirrt Entwachsende: die einen treten fleißig in vorväterliche Fußstapfen und stürzen dabei leicht ab – wie in vergessene Bombenkrater oder geschickt laubverdeckte Kleintierfallen. (Das liegt übrigens weniger an den damals angeblich so ungeheuer enormen Schuhgrößen; das liegt vielmehr an allem anderen, also eher etwa am klimakatastrophal bedingten allgemeinen Ansteigen des Meeresspiegels.)
Legionenweise absolvieren sie irgendwelche Regieassistentenschulen und landen karrieretechnisch eines Tages am Stadt- oder Staatstheaterregiepult, manche gar in Intendantensesseln; alert und opportun oder gefesselt und geknebelt von der Einsicht in die Unumsetzbarkeit alles dessen, was sie eigentlich mal wollten. Und die stellen dann fest, daß die Königsdramen und Romanzen längst nicht mehr auf dem Theater erzählt werden, sondern von der „C & A“-Reklame, vom Marlboro Adventure oder auf der Camel Trophy Tour.
In der Einöde des Neulands
Die Träume von gestern sind natürlich noch da, sie stehen nur jetzt, in schöne Worte gefaßt, unter einer Klamottenwerbung, vom einstigen Träumer oft daselbst verraten, der nun nur noch verträumt aus dem Fenster blickt in den verregneten Himmel, hohles Hand ein Bündel Geld: als leeres Model für die Slogan-Ansammlung vom „Wagnis Theater“, deren Pointe jedoch immer nur ein Produktname ist.
Und, andererseits, sind da mehr und mehr die, die ausgetretene Wege samt sämtlicher Spuren ohnehin meiden, sich stattdessen nach alter Stadtindianerart mit der Machete durch den Busch schlagen, der hinter ihnen wieder zusammenwächst als wenn da nichts und niemand gewesen wäre – und die vielleicht irgendwann auch den gernzitierten Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen können; kein Ausgang, nirgends, der Weg ist weg und mit ihm leider auch das Ziel, das er war. Das einzige, was sie – Ironie des Schicksals – finden in the undiscover'd country, in der vermeintlichen Einöde des Neulands, sind doch nur wieder Fußstapfen, die unter dem Gestrüpp geduldig lauern. Irgendwer tritt immer rein.
Doch worum geht es in der abseitigeren Arbeit eben dieser letztgenannten „jungen“ (zum Teil ja auch schon ältergewordenen) Tanz-, Theater- und Performance-Künstler? Um „Neues“, „Innovatives“ – das sind die beiden nichtssagenden Standardantworten auf diese oft und nur zu selten zu Unrecht gestellte Frage. Beschrieben werden müßte stattdessen wohl das Abschiednehmen von herkömmlichen und angewöhnten Seh- und Arbeitsweisen, vom klassischen Bildungs- und Vermittlungsgedanken, von aller auch nur irgendwie gesicherten Wahrnehmung. Keine Rückversicherung nimmt noch Kunden auf, keine Kategorien mehr zu Hand, auch kein Konsens; und Kommunikation während des Erlebens oder über das Erlebte funktioniert nur noch als konsequentes Von-sich-Erzählen. Nicht länger sind „die da vorne“ auf den Bühnen die Homburgs – sondern wir, das Publikum, die einzelnen Zuschauer und –hörer, Alpträumer.
Also: Avant garde, selbsterlebt. Das heißt vielleicht, daß ein Abend schlicht nicht mehr das ist, was er scheint; daß die ganze Aufführung eigentlich von etwas anderem handelt, als sie vorgibt. Heißt, in ihrem Verlauf anzufangen, über andere, in und von diesem Moment ausgelöste Dinge nachzudenken, Pläne zu schmieden, Eigenes zu leben. Oder aus dem blitzartig einfallenden Tiefschlaf zu erwachen und lauter Dinge zu sehen, die eigentlich oder zumindest zunächst mal und rein optisch gar nicht da sind. Die Bilder: stets ähnliche, aber gegeneinander verschobene Ausschnitte, anhaltende oder aufgerissene Augen-Blicke, flüchtig; unklar, was davon außen gesehen ist und was innen geträumt. Musik aber und Stimmen sind überall; innen und außen, im Scheinschlaf, im Rausch, auf der Bühne. Ablegen? Einschiffen. Erleben eben. Und sehr geheim. Große Überraschung, weit draußen und tief drinnen in der meistgefürchteten, nächstliegenden Fremde, an diesem und jenem Ufer vom Ich, dem dunklen Strom.
Die Homburgs sind längst wir: Die Zuschauer
Naja. Zugegeben: solche Theatervision mag sich vom Cyber Space nicht mehr wirklich nennenswert unterscheiden, bedeutet ebenso vereinsamte und isolierte wie austauschbare Erfahrungen. Und der Theaterschlaf bleibt auch weiterhin das sichere Indiz vor allem für Müdigkeit hie und da: beim Konsumenten wie beim Produzenten. Selbstzweck also sollten derartige „Experimente“ nicht sein; immer Suche, vielleicht Vorbereitung. Auf andere Geschichten und neue Erzählweisen. Auf ein wieder notwendiges, weil unverwechselbares, eigensprachliches, der Gesellschaft adäquates oder gar überlegenes (dann auch ganz von selbst übrigens wieder Sinn und SInne stiftendes) Theater.
Diesen Weg, dieses Wagnis und Risiko in Spiel und Wahrnehmung, das ein Ausprobieren nicht nur den Produzenten, sondern auch und gerade ihren Zuschauern ermöglicht – das ist ein wichtiger Grund für das nun zum dritten Mal auf Kampnagel initiierte Produktionsforum für „Junge Hunde“. Fünf neue Hamburger Künstlerkonstellationen erhielten in diesem Jahr für durchweg ungewöhnliche Projekte Proben- und Aufführungsmöglichkeiten sowie ein bescheidenes Budget. Aus fünf anderen europäischen Produktionshäusern wurden außerdem Gastspiele und Programme eingeladen, die ähnliche Konzepte „for the promotion of young artists“ verfolgen wie Kampnagel: so sind bis Mitte Mai Gruppen und Vorstellungen aus dem „Green Room“ in Manchester, dem „European Theatre“ in den Kopenhagener Kanonhallen, dem „Monty“ in Antwerpen und dem „Glejtheater“ in Ljubljana in Hamburg zu sehen. Young bloods – Mladi Psi – Jonge Jannen – Ungt Blod: Möglicherweise kann so ein Netz geknüpft werden über den Kontinent, das dank der nötigen Verbindungen dem Anliegen wie den Beteiligten dieser Produktions- und Veranstaltungsserie zu mehr Bedeutung und größerer Verbreitung verhilft. Und das womöglich auch ein paar Abstürze und Sprünge mehr als bisher auf- und abfängt. To serve and to protect: damit immer weniger „junge Künstler“ ihren Unterhalt durch Windsorwerbung verdienen müssen. Und unsereins zum Beispiel darüber nicht mehr stellvertretend und gar so heftig jammern muß.
Matthias Pees
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