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Vom Verfall der Pflicht

Alexander Solschenizyn über Antisemitismus, Literatur und Menschenrechte  ■ D O K U M E N T A T I O N

Frage: Einige Kritiker haben ihnen aufgrund ihrer Beschreibung des Terroristen Bogrov in „August 14“ Antisemitismus vorgeworfen. Ein Autor nannte ihr Buch ein neues „Protokoll der Weisen von Zion“. Was ist ihre Antwort auf diese Vorwürfe?

Alexander Solschenizyn: Bogrov beschrieb ich so wirklichkeitsgetreu wie möglich, mit allen Einzelheiten seines Lebens, seiner Familie, seiner Ideologie und seines Verhaltens. Den Terminus „antisemitisch“ auf „August 14“ anzuwenden, heißt auf alle Skrupel verzichten. Früher dachte ich, so etwas wäre nur in der Sowjetunion möglich. Es war dort nicht zu kaufen, weil es nicht hatte veröffentlicht werden dürfen, die Leute aber erklärten ziemlich lautstark, es handele sich um ein fürchterliches, ein imperialistisches, ein skandalöses, widerliches Buch. Diese Vorwürfe konnte ich nicht widerlegen, die Leute hatten ja keine Möglichkeit, das Buch zu lesen.

Worum geht es aber wirklich? Das Wort „antisemitisch“ wird meist ganz unbedacht verwendet. Seine wirkliche Bedeutung wird so verändert, verformt. Ich schlage folgende Definition vor: antisemitisch ist eine einseitig feindliche Handlung gegenüber dem Judentum insgesamt. Geht man von dieser Definition aus, so ist klar, daß es in „August 14“ nicht nur keinen Antisemitismus gibt, sondern daß es auch ganz unmöglich ist, daß es in einem wirklichen Kunstwerk auch nur eine Spur von Antisemitismus geben kann. Kein wirklicher Künstler kann einer ganzen Nation gegenüber einseitig und ungerecht sein, ohne die künstlerische Integrität seines ganzen Werkes zu zerstören. Ein Kunstwerk hat immer viele Dimensionen, es besteht niemals aus leeren Abstraktionen.

Mein Roman enthält keine Allgemeinheiten über die jüdische Nation insgesamt. Wenn man ein Buch schreibt, kann man sich nicht immer fragen, wie diese oder jene Stelle interpretiert werden wird. Man muß sich fragen: Wie war es in Wirklichkeit? Meine Pflicht ist es, die Dinge so zu beschreiben, wie sie wirklich gewesen sind.

Glauben Sie, ihr Zyklus „Das rote Rad“ wird eines Tages in der Sowjetunion erscheinen können?

Ich habe nicht den mindesten Zweifel.

Sie haben gesagt, erst müßten ihre Werke in die UdSSR zurückkehren können, bevor sie es täten.

Ja. Dreiundfünfzig Jahre habe ich am „Roten Rad“ gearbeitet. Alles, was ich gedacht und entdeckt habe, ist zu einem Teil dieses Werks geworden. Wenn ich vor dem „Roten Rad“ in die Sowjetunion zurückkehren müßte, wäre ich wie stumm. Niemand wüßte, was passiert ist. Wenn die Menschen es erst einmal gelesen haben, dann können wir reden. Das Buch muß in allen Buchhandlungen der UdSSR zu kaufen sein.

Aber meine Rückkehr hängt nicht nur von mir ab. Die sowjetische Führung hat die Verratsanklage gegen mich noch nicht fallengelassen. Ich kann also nach wie vor mit Kriminalstrafen wegen Landesverrats rechnen.

(Natalia Solschenizyn erklärt: „Am Tag vor der Ausreise wurde er offiziell wegen Landesverrat angeklagt. Das ist bis heute nicht rückgängig gemacht worden.“)

Man hat mich damals, statt mich zu erschießen, ins Exil geschickt.

Nach ihren Äußerungen zum christlichen Glauben, zur russischen Orthodoxie haben einige Kritiker sie einen Chauvinisten und Xenophoben genannt. Sind sie ein russischer Nationalist?

Es ist unvorstellbar, wie ich diffamiert werde. Hier nur ein paar Äußerungen über mich: ein Fürsprecher der Theokratie, einer, der möchte, daß der Staat von Priestern regiert wird. Niemals habe ich etwas derartiges geschrieben. Man wirft mir auch Zarennostalgie vor. Ganz abgesehen davon, daß nur ein Idiot glaubt, das Rad der Geschichte ließe sich zurückdrehen, habe ich niemals etwas in diesem Sinne geschrieben. Der Grund ist, daß in der Sowjetunion von Nikolaus II. ein ganz und gar unmenschliches Bild gezeichnet wird, er gilt als eine ignorante Kanaille, während ich ihn als eine reale Person, ein menschliches Wesen darstelle.

Manche verbiegen die Fakten in voller Absicht, andere machen sich nicht die Mühe, die Quellen zu überprüfen. Das gleiche gilt für den Vorwurf, ich wäre ein Nationalist. Ich bin Patriot. Ich liebe mein Vaterland. Ich möchte, daß mein Land, mein krankes Land, das in den letzten siebzig Jahren zerstört wurde, mein Land, das am Rande des Todes steht, wieder zu leben beginnt. Aber das macht mich doch nicht zu einem Nationalisten. Ich möchte niemanden seiner Rechte berauben. Jedes Land hat seine Patrioten, die sich um sein Schicksal sorgen.

Wie erklären sie sich die heftigen Reaktionen auf ihre Äußerungen?

In Europa sind die Antworten sehr unterschiedlich. In der Sowjetunion und den USA dagegen kommen sie wie vom Fließband: Alle Auffassungen über meine Äußerungen gleichen einander exakt. Im Fall der Sowjetunion verstehe ich das. Da gibt es ein Politbüro. Ein Knopf wird gedrückt, und alle sagen, was das Politbüro angeordnet hat. In den Vereinigten Staaten spielt die Mode eine große Rolle. Wenn der Wind der Mode in eine bestimmte Richtung weht, schreibt die ganze Welt in voller Einstimmigkeit in dieser Richtung.

Da ist meine Rede 1978 in Harvard, in der ich meine Sicht der Schwächen der Vereinigten Staaten von Amerika zum Ausdruck brachte. Ich hatte verstanden, die Demokratie sei besessen von der Kritik. Der Demokratie aber gefällt einmal die Kritik, ein andermal lehnt sie sie ab. Bei der Presse ist das ganz anders. Die Presse fühlte sich beleidigt, und von diesem Augenblick an betrachtete sie mich als ihren persönlichen Feind, weil ich den Finger auf die Wunde gelegt hatte. Einer erklärte: „Warum wurde der reingelassen in unser Land? Ganz unkritisch einfach reingelassen. Wir hätten ihn nicht aufnehmen dürfen.

Ich war darüber sehr traurig, denn der sehr wichtige Grundgedanke meiner Rede in Harvard - „Eine geteilte Welt“ war, daß die Welt nicht aus zwei gleichen Hälften besteht, die beide die gleiche Richtung verfolgen. Der Irrtum des Westens besteht darin, daß alle Welt die anderen Zivilisationen an ihrer Ähnlichkeit mit der westlichen Gesellschaft mißt. Wer sich nicht ihr annähert, hat keine Zukunft, ist taub, reaktionär und muß nicht weiter beachtet werden. Diese Ansicht ist sehr gefährlich.

In der UdSSR und in der ganzen kommunistischen Welt ist es zu wichtigen Veränderungen gekommen. Warum wollen sie sich über die nicht äußern?

Wenn ich zu Beginn dieser Veränderungen mit meinem Schweigen begonnen hätte, könnte das überraschen. Aber ich schweige seit 1983. Also vor dem Beginn der Veränderungen. Was sollte ich tun? Sollte ich mit meiner Arbeit aufhören und politischer Kommentator werden? Dazu hatte ich keine Lust. Ich muß meine Arbeit fortsetzen. Ich bin über siebzig Jahre alt. Viel Zeit habe ich nicht mehr.

Sie erklärten, die Moral sei im Westen in den letzten dreihundert Jahren immer dekadenter geworden. Wie kommen sie zu dieser Auffassung?

Es gab eine technische Entwicklung, aber das ist nicht dasselbe wie eine Entwicklung der Menschheit überhaupt. In den westlichen Gesellschaften, die wir christlich-westlich nannten, die wir jetzt aber besser heidnisch-westlich nennen sollten, hat der intellektuellen und wissenschaftlichen Entwicklung ein Verlust der moralischen Grundlagen der Gesellschaft entsprochen. In diesen letzten dreihundert Jahren sind die Pflichten ganz und gar verschwunden, währen die Rechte sich breitgemacht haben. Wir haben aber zwei Lungen. Man kann nicht nur mit der einen oder der anderen atmen. Rechte und Pflichten müssen ausgewogen sein. Und wenn die Gesetze das nicht leisten, dann müssen wir uns selbst kontrollieren. Als die westliche Gesellschaft sich gründete, da basierte sie auf der Idee, daß jeder Einzelne sich einzuschränken habe. Alle Welt wußte, was sie zu tun und was sie zu lassen hatte. Das Gesetz an sich beschränkte niemanden. Seitdem haben wir nur die Rechte weiterentwickelt, die Rechte, immer wieder die Rechte. Ganz auf Kosten der Pflicht.

Übersetzung: Anton Kipper

Auszüge aus einem großen Interview in 'Time‘ vom 24.7.89

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