: Vom Keller in den nassen Abgrund
Der Bochumer Intendant Matthias Hartmann inszeniert eine mucksmäuschenstille Uraufführung von Jon Fosses „Todesvariationen“. Die ausgezeichneten Schauspieler machen den Abend in den Kammerspielen zu einem Erlebnis
Irgendwann endet das Leben im farblosen Nirgendwo. Mann und Frau haben ihre Beziehung längst hinter sich gelassen. Sie bleibt allein. Er heiratet zum dritten Mal, will sie nicht mehr sehen – ihre einzige Tochter hat gerade Selbstmord begangen. Ein imaginäres schwarzes Loch zieht Erinnerungen, Vorwürfe und Sehnsüchte der Beteiligten mitten in den schneeweißen Raum der Bochumer Kammerspiele. Intendant Matthias Hartmann inszeniert die Uraufführung von „Todesvariationen“ des norwegischen Dichters Jon Fosse.
Die sechs ausgezeichneten SchauspielerInnen haben Hartmann die Arbeit sicher erleichtert. Sie haben den größten Anteil daran, dass es mucksmäuschenstill war während der Premiere. Kaum ein Huster, kein Handy-Kaufton – ungewöhnlich für eine solche Menge Menschen und allein das spricht für die Inszenierung. In dem weißen Nichtraum – nur ein Scheinwerfer wanderte an der Rampe unmerklich dreimal von links nach rechts und warf graue Schatten an die Wände – tauchen die Personen in ihre Vergangenheit, der Zuschauer erfährt gleichzeitig, wie die Familientragödie begann und wie sie endete. Obwohl sich alle im selben Raum bewegen, sind sie an unterschiedlichen Orten. Mann und Frau (eindringlich: Barbara Nüsse und Hans-Michael Rehberg) in der Gegenwart und gleichzeitig als junges Paar (exzellent: Sabine Haupt und Patrick Heyn) in der ersten Kellerwohnung. Ihre Tochter (Cathérine Seifert, die sich als junge und erwachsene Tochter spielen muss, liefert eine hervorragende Leistung ab) und ihr Freund (gut: Johannes Zwirner) sind beide tot. Seine Beweggründe bleiben melancholisch im Dunkeln, ihre Sucht nach Einsamkeit wird der rote Faden des Stücks.
Die „Todesvariationen“ erhielten von Autor Fosse ein interessantes „Happy-End“. „Ich hätte das nicht tun sollen“ sagt die Tochter am Ende. Sie wolle leben, bei den Eltern sein. Sie wollte das nicht tun. Selbstmord ist also keine Lösung? Mit dieser Aussage hätte Fosse sein eigenes Stück überflüssigerweise in die Banalität stürzen lassen: Die Beklemmung der Zuschauer weicht, ein Geländer hätte sich im unangenehmen Nichts gefunden, das der Besucher jetzt sorglos wieder verlassen könnte. Doch die vorletzte Zeile stößt ihn wieder zurück. Die Tochter will zurück, um wieder allein zu sein. Der Tod, mit dem sie dem Freund folgte, war für sie ein Fehler, denn er ist nun immer da. Wahre Einsamkeit als Lebensinhalt gibt es wohl nur in der Realität. Wehe dem, der diese Zeile überhört hat.
PETER ORTMANN
DI, 19:30 Uhr, Kammerspiele Bochum(anschließend Publikumsgespräch)Karten: 0234-3333111