: Vollwertwoche
■ Die "werte-Woche" vom 15. bis 23. Januar bei West 3
Wertewandel, Werteverfall, Orientierungslosigkeit – kein Tag vergeht, an dem nicht über die moralische Talfahrt der Gesellschaft geklagt wird. In West 3 steht, nach je einer Alten-, Sucht- und Gewaltwoche, nun eine „Werte-Woche“ an, in der sich der Sender vom morgigen Samstag an tagtäglich mit dem vermeintlichen Ende der Ethik befassen wird. Der WDR- Hörfunk hat sich gar für ein Jahr dem Thema „Wertewandel – Was hält unsere Gesellschaft zusammen“ verschrieben.
Aber gibt es überhaupt noch so etwas wie homogene gesellschaftliche Zustände? Der WDR geht davon aus und will vor allem eines ergründen: Wonach können wir uns noch richten? Und so fragt er zunächst: Wonach haben wir uns denn bisher gerichtet? Nach Platon, Kant oder Schopenhauer? Nach Parteiprogrammen, Kinoprogrammen statt, wie heute, nach Fernsehprogrammen?
Lediglich vier Namen nennt der WDR, vier Helden des gesellschaftlichen Konsenses: Als erster, in einer „Rückblende“, Jan Palach, der sich für Dubčeks Reformkurs 1969 selbst verbrannte; dann Herbert Marcuse als Leitbild der 68er; Simon Wiesenthal als personifizierter Widerstand sowie Hans Jonas und sein „Prinzip Verantwortung“. Das alles ist lange her. „Orientierungen werden verlangt“, behauptet Fernseh-Kulturleiter Werner Filmer in seiner Presserklärung, und daß dazumal „Sicherheit, Solidarität, Bescheidenheit“ als „herstellbar und organisierbar“ erschienen.
Offenbar unausweichlich präsentiert der WDR auch eine Talkrunde, natürlich mit Rita Süssmuth, mit einem Soziologen und mit dem Trendforscher Matthias Horx. Und auch gegen die Versuchung, bei dem Thema zuweilen in Richtung Zeitgeist abzurutschen, ist auch der Sender nicht gefeit: Werbung als Ersatz für Ethik, Frauenzeitschriften als reaktionäre Leitbilder für die verunsicherte Frau – das ist ebensowenig neu wie das Fernsehen als Vereinsamungsmaschine. Vieles wurde schon in den Achtzigern durchgekaut: der Körperkult, die rücksichtslos profitorientierten jungen Leute oder auch die Ersatzabenteuer und -helden (die es allerdings, nicht zum Schaden der Menschheit, schon seit der Antike gibt). Konkrete Auswüchse der Egozentrik dagegen, die „neue deutsche Identität“, „Ökologie und Doppelmoral“ oder auch der Verlust sprachlichen Ausdrucksvermögens werden nur implizit oder im Schulfunk thematisiert.
Immerhin gibt es, sorgsam übers Jahr gestreut, Beiträge über die Utopien der Jugend, über die leeren Versprechungen der Esoterik, über die Arbeit als Sinnstifter, über Lebensrecht und Euthanasie. Und wenn die These, daß die angebliche Verrohung der Jugend als Vorwand für die Forderung nach einem stärkeren Staat herhalten muß, auch nicht neu ist, so ist sie deshalb ja noch lange nicht falsch. Oliver Rahayel
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