■ Ein ungeschriebenes Kapitel der DDR-Geschichte: Volk ohne Gummi
„Wo knüpfen wir an? Wo schließen wir uns an? Wer werden, wer wollen wir sein? Überspringen, ohne zu wissen, wo wir aufsetzen werden? Was bleibt, wenn wir ankommen?“ fragte im September 1990 der Menschenrechtler Friedrich „Worte öffnen Fäuste“ Schorlemmer in seinem berühmt gewordenen Aufsatz „Aus den Trümmern des Vergangenen werden Bausteine des Zukünftigen“ – ohne aber jemals eine Antwort zu erhalten. Deshalb jetzt noch eine Zusatzfrage an Radio Eriwan: Wurde in der DDR eigentlich Gummitwist getanzt?
Radio Eriwan antwortet: Im Prinzip ja, aber ohne Gummi. Den verschlungenen Weg durch den Versorgungsengpaß konnten sich nur aussortierte Traktorreifen bahnen. Gummitwistverrückte Schülerinnen rissen sich darum. Wegen der geringen Biegsamkeit der Reifen war das eigentliche Tanzen mit Schwierigkeiten verbunden, doch es trug zu einer ungeheuren Kräftigung der Mädchenbeine bei. Ein Schuldirektor aus Schleiz, der nicht genannt werden möchte, erinnert sich: „Die hatten Waden wie Gorillaweibchen. In der Pause haben sie sich immer zu dritt in die Traktorreifen gestellt, gleich hier vorne, unter der Buche, neben der Sindermannbüste. Und dann sprangen sie im Dreieck oder im Sechseck, verstanden habe ich das Prinzip dabei ja nie so richtig, und die Reifen haben sich überkreuzt und verknotet, bis sie qualmten. Einmal ist einer gerissen und oben aufs Dach geflitscht, da war der Schornstein weg...“
Das ist eine einsame Stimme. Retro-Trend-Scouts, die behutsam das Thema „Gummitwist in der DDR“ ansprechen, stoßen immer wieder auf eine unüberwindbare, graffitibeschmierte, auch in den Köpfen noch nicht vollends eingerissene Mauer des Schweigens.
Der Twistgummiknappheit von einst entspricht der Mangel an realsozialistischer Gummitwistliteratur. Bereitwilliger sprechen die Dokumente und die Menschen über den Twist, den „großen Bruder des Gummitwists“, wie der Volksmund sagt. In der SED betrachtete man den Twist mit gemischten Gefühlen. Der Versuch, ihn durch einen volkseigenen, von Fachleuten in Leipzig ausgeheckten Tanz namens „Lipsi“ zu ersetzen, scheiterte bereits anfang der 60er Jahre kläglich. Das weiß man, das gehört zur Allgemeinbildung, das steht in jedem Telefonbuch. Zum Twist verhält sich Gummitwist jedoch wie Minigolf zu Golf. Man macht es, aber man spricht nicht darüber. Für die winzige, aus Schkopau gelieferte Minigolfanlage in Pankow haben sich die DDR-Bonzen, als sie entdeckt worden war, doller geschämt als für den danebengelegenen Golfplatz, den Alexander Schalck-Golodkowski seinerzeit peruanischen Hochlandbauern mit Waffengewalt aus den Rippen geleiert und über Comecon-Kanäle in die DDR verschifft haben soll. Und so nimmt es auch nicht wunder, daß Erich Honecker bei seiner Flucht nach Moskau zwar alle gebunkerten Twistlehrer zurückließ, nicht aber die hochwertigen, aus den Peniswurzelsehnen angolanischer Katzenaffen gefertigten Gummitwiststrippen, die den „Oberen Zehntausend“ in der DDR bei ihren schmutzigen Spielen gute Dienste geleistet hatten, während sich das gemeine Volk mit ausgemusterten Traktorreifen aus LPG- Beständen hatte behelfen müssen. „Gib Gummi, Erich!“ hieß es 1989 bei den Montagsdemos. Jetzt wissen wir, warum. Fragen bleiben. Wo knüpfen wir an? Wo schließen wir uns an? Wer werden, wer wollen wir sein? Überspringen, ohne zu wissen, wo wir aufsetzen werden? Was bleibt, wenn wir ankommen? Und wurde in der DDR eigentlich auch Blindekuh gespielt? Gerhard Henschel
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