: Viele Fragen bleiben ungeklärt
„Voll im Bilde“ gibt sich die Bundesregierung – dennoch scheint sie von den US-Luftangriffen auf Afghanistan überrascht worden zu sein
von SEVERIN WEILAND
Natürlich muss das ein Regierungssprecher sagen. Es wäre ja auch absurd, würde der Eindruck entstehen, an den politischen Spitzen in Berlin würde irgendetwas vorbei gehen. Also sagt Uwe-Carsten Heye, die Bundesregierung sei „voll im Bilde“. In- und ausländische Quellen würden ausgewertet, es finde ein „permanenter Informationsaustausch“ statt. Und doch wird an diesem Montagvormittag im Saal der Bundespressekonferenz nicht so recht deutlich, in wieweit die Bundesregierung über die Militäraktion gegen die Taliban vorab eingeweiht wurde.
Eine Stunde vor dem Angriff habe der US-Präsident George W. Bush am Sonntag den Kanzler angerufen, erzählt Heye. Die erste Meldung der Agentur Reuters ging um 18.33 am Sonntagabend über die Ticker. Also wird der Kanzler am späten Nachmittag aus Washington angerufen worden sein. Welchen Inhalts das Gespräch war, das sagt Heye nicht.
In diesen Tagen beschränken sich Auskünfte der Regierung ohnehin nur auf das Allernotwendigste. Erst vor gut einer Woche haben sich Journalisten über die sparsame Dosierung der Informationen beklagt. Deshalb vielleicht gebraucht Heye, der früher selbst Journalist war, an diesem Tag mehrmals die Floskel, er „bitte um Verständnis“ dafür, dass er keine weitere Ausführungen machen könne.
Angesichts der dürren Faktenlage beschleicht so manchen professionellen Beobachter in Berlin die Vermutung, die Regierung wisse kaum mehr als das, was die USA öffentlich herausgibt. Ja, es ist überhaupt unklar, ob die Regierung nicht – wie alle anderen im Lande auch – vom Termin des Angriffs überrascht wurde. Dafür spricht einiges. Der Kanzler selbst war am Sonntag in Hannover und kehrte, nachdem er von Bush informiert worden war, nach Berlin zurück.
Schauplatz Bundeskanzleramt am Sonntagabend gegen 21.30. Schröder spricht und Joschka Fischer steht neben ihm, ernst, wie es sich gehört. Im Gegensatz zur ersten Pressekonferenz am Abend des 11. September, nach den Anschlägen in den USA, ist diesmal keine Unruhe unter den Beteiligten zu spüren. So, als hätte sich das Team um den Kanzler innerlich auf diesen Augenblick eingestellt. Wäre da nicht die ungewöhnlich legere Kleidung von Kanzlerberater Michael Steiner: Er sieht aus, als sei er nicht auf einen Termin unter Journalisten vorbereitet gewesen. Statt Hemd und Krawatte lugt unter dem Sakko ein schwarzes, sehr saloppes T-Shirt hervor. Und auch der Chef des Kanzleramtes, Frank-Walter Steinmeier, trägt an diesem Abend ein Sweatshirt. Beobachter der Szenerie werden den Eindruck nicht los, dass der engste Kreis des Kanzlers sich eigentlich auf ein kriegsfreies Wochenende eingestellt hatte.
Als feststeht, dass der Angriff begonnen hat, nimmt im Kanzleramt die fast schon alltägliche Routine der Sicherheitskonferenzen ihren Lauf. Um 20 Uhr trifft sich Steinmeier mit den Chefs von Bundesnachrichtendienst, Bundesamt für Verfassungsschutz und Bundeskriminalamt. Gegen 22 Uhr dann, nach seiner Pressekonferenz, sitzt der Kanzler in der sogenannten Kleinen Sicherheitslage mit Joschka Fischer, Otto Schily und Rudolf Scharping zusammen. Der war, nachdem er am späten Nachmittag, wie er selbst erklärt, „zu Hause“ über den Angriff informiert worden war, nach Berlin geflogen.
„Zu Hause“, also Frankfurt, das ist ein Stichwort, das gleich neue Fragen an den Verteidigungsminister hervorruft. Afghanistan hin oder her – irgendwie haben es ihm manche Medien nicht verziehen, dass er der eigentliche Kriegsgewinnler im Kabinett ist. Scharping, der sich mit seiner Lebensgefährtin, der Gräfin Pilati, im Pool ablichten ließ, während die Bundeswehr sich auf den Mazedonieneinsatz vorbereitete. Scharping, der am 11. September eine ungewöhnlich harte Befragung im Verteidigungsausschuss hinter sich gebracht hatte, weil er angeblich militärische Geheimnisse ausgeplaudert habe – wenig später rasten die Flugzeuge in die Twin Towers von New York und alle Fragen waren vergessen.
Scharping also spricht an diesem Montagvormittag in der Bundespressekonferenz über die AWACS-Einsätze, die der Nato-Rat kurz zuvor beschlossen hat und an dem deutsche Soldaten beteiligt sind. Die Flüge sollen zunächst wohl nur über Nordamerika und Kanada durchgeführt werden um den dortigen Luftraum zu sichern. Bis zu 32 Deutsche könnten darunter sein – unklar ist, ob für ihre Anwesenheit an Bord ein Beschluß des Bundestages notwendig wäre. Es sei Sache der Fraktionschefs, so Scharping, ob „sich der rechtlichen Lage eine pragmatische hinzufügt“.
Die Lage Scharpings wird deutlich, als ihn ein Journalist danach fragt, ob er dienstlich oder privat zu Hause gewesen sei. Und: Ob die Sicherheitslage aus seiner Sicht ein Fernbleiben aus Berlin gerechtfertig hätte? Einige Kollegen lachen. Bundesinnenmininister Otto Schily, der neben dem Verteidigungsminister sitzt, verzieht keine Miene. Jeder weiß, worauf die Frage abzielt. Scharping weiß es auch. Und wird scharf: „Sehen Sie nicht, dass Sie sich auf einem Pfad bewegen, der an der Grenze des Unwürdigen ist?“, fragt er den Journalisten. Der verneint. Draußen, vor dem Saal der Bundespressekonferenz, kommen Scharping und der Frager dann noch einmal zusammen. Falls es ihn interessiere – und das sei ja der Hintergrund der Frage gewesen, wendet Scharping sich an den Journalisten, „ich war allein zu Haus.“ Immerhin – diese Frage wäre an diesem Montag wohl restlos geklärt.
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