: Viel guter Wille – und eine warme Mahlzeit
■ Obdachlose und die Sozialsenatorin: Die Kunst, aneinander vorbeizureden
Das Bild der sauberen Hauptstadt läßt sich Berlin etwas kosten: So ist es keine Seltenheit mehr, daß Obdachlose, die auf dem Breitscheidplatz oder dem Hauptbahnhof das Stadtbild stören, von der Polizei einen kostenlosen Transfer an den Stadtrand erhalten. Einer hat es in der vergangenen Woche bereits bis an den Müggelsee geschafft. Ein anderer mußte selber zahlen – er wurde wegen Hausfriedensbruchs (er hatte sich ohne gültigen Fahrschein am Hauptbahnhof aufgehalten) zu 15 Tagessätzen à 20 Mark verurteilt.
Die von Innensenator Dieter Heckelmann (CDU) und von der Reichsbahn initiierte Vertreibungspolitik war eines der drängendsten Probleme, mit dem Obdachlose am Dienstag abend die Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) konfrontierten. Bei Kaffee, Tee und einem warmen Essen hatte die Kreuzberger Heilig- Kreuz-Gemeinde zum Gespräch zwischen Betroffenen, Helfern und Politikern geladen – und auf Kontroverse gesetzt.
Daß die Kluft zwischen den Vorstellungen der Sozialverwaltung und der Realität der Obdachlosen enorm ist, war die wesentlichste Erkenntnis des Treffens. So erntete Stahmer mit ihrem verwaltungstechnisch richtigen Hinweis, auch ohne festen Wohnsitz könnten Obdachlose Sozialhilfe beziehen, resigniertes Gelächter. Denn faktisch sei die Regelung, die die Bezirke je nach Geburtsdatum der Wohnsitzlosen zuständig erklärt, lediglich theoretisch praktikabel: Viele schafften es rein gesundheitlich nicht, sich regelmäßig in Köpenick oder Spandau sehen zu lassen, erklärten Obdachlose und Kirchenvertreter. Außerdem sei es schon vorgekommen, daß das Landeseinwohneramt Leute wieder abgemeldet habe. Andere Bezirksämter verlangten bis zu 20 Gänge zu potentiellen Arbeitgebern im Monat, bevor sie Sozialhilfe auszahlten.
Stahmer versicherte, sich um weitere Absprachen mit der Innenverwaltung und der Reichsbahn zu bemühen. Immerhin sei es bereits gelungen, die BVG davon zu überzeugen, daß sie Obdachlose nicht von ihren Bahnhöfen vertreibe. Mehr, als viel guten Willen zu bekunden, blieb der Sozialsenatorin allerdings nicht übrig: Ohne die enge Kooperation von Innen- , Bau-, und Gesundheitsverwaltung sowie den Bezirksämtern und deren guten Willen wird sich an der Lage von Obdachlosen in absehbarer Zeit nichts ändern. Diese aber hatten darauf verzichtet, Vertreter zu dem Abend in der Heiligkreuzgemeinde zu schicken. So blieb den Obdachlosen letztendlich wieder einmal nur die vage Hoffnung auf Verbesserungen – und last but not least – ein warmes Essen. jgo
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen