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„Vertrauensbildung zuerst“

Indiens Expremier Gujral warnt vor überhöhten Erwartungen an das erste Treffen mit Pakistans Militärmachthaber und neuem Präsidenten, General Musharraf

BERLIN taz ■ Beim kommenden indisch-pakistanischen Gipfel wird es nicht um eine Lösung des Kaschmirkonflikts gehen, sondern nur um „eine Wiederbelebung des unterbrochenen Prozesses der Vertrauensbildung“. Dies sagte Indiens Expremier Inder Kumar Gujral der taz. Er warnte vor überhöhten Erwartungen an das vom 14. bis 16. Juli in Delhi und Agra geplante Treffen, wie sie von seinem Nachfolger Atal Behari Vajpayee geschürt würden. „Die Frage nach der Lösung des Kaschmirproblems stellt sich zur Zeit nicht“, so Gujral, auch wenn sie ultimatives Ziel des Dialogs bleibe. Es wird das erste bilaterale Gespräch auf höchster Ebene nach über zweijähriger Unterbrechung.

Die kaschmirischen Unabhängigkeitskämpfer, die an Gesprächen beteiligt werden wollen, spielen laut Gujral beim indisch-pakistanischen Dialog keine Rolle. Die Kaschmirer seien über die jeweiligen Regierungen vertreten. So könnten sich die Bewohner des indischen Teils von Kaschmir an die Regierung und Opposition in Delhi wenden. „Kein Land wird je seinen Bürgern erlauben, direkt mit einer fremden Regierung zu verhandeln“, sagte Gujral.

Auf die Frage, wie der Kaschmirkonflikt überhaupt gelöst werden könne, sagte Gujral, es sei denkbar, die „Kontrolllinie“ genannte Waffenstillstandslinie von 1972 in eine offizielle Grenze zu verwandeln. Dies sei beim damaligen Friedensabkommen von Simla informell vereinbart worden und mache Sinn aus militärstrategischen, ethno-lingustischen und wirtschaftlichen Gründen. „Aber es gibt zwei Punkte, bei denen keine indische Regierung je einen Kompromiss machen kann. Das sind Änderungen der Grenzen und Abweichungen von der Ideologie des Säkularismus“, so Gujral. Der 81-jährige Politiker sagte, Kaschmir sei keine für sich stehende Frage, sondern hänge mit diesen Prinzipien zusammen.

Gujral führte 1997/98 für elf Monate eine linke Koalitionsregierung und war zuvor Außenminister. In dieser Funktion hatte er 1996 mit Pakistans damaligem Premier Nawaz Sharif einen Dialog begonnen, den er als Premier fortsetzte. Entsprechend der nach ihm benannten Gujral-Doktrin leitete er eine Entspannungspolitik ein. Doch nach einem weiteren Treffen zwischen den Premiers beider Staaten im Februar 1999 in Lahore brach der Dialog unter Gujrals Nachfolger Vajpayee ab, als Indien entdeckte, dass von Pakistan unterstützte Rebellen sich auf Bergstellungen bei Kargil im indischen Teil Kaschmirs verschanzt hatten. Der Kargilkonflikt führte im Mai 1999 fast zum vierten Krieg zwischen den Nachbarn, die ein Jahr zuvor jeweils Atomtests durchgeführt hatten.

Am vergangenen 23. Mai kündigte Vajpayee nach sechs Monaten den einseitigen Waffenstillstand in Kaschmir auf und lud Pakistans Machthaber Pervez Musharraf überraschend nach Indien ein. Damit wurde nicht nur der Führer des Militärputschs vom Oktober 1999 eingeladen, sondern auch der Hauptdrahtzieher des Kargilkonflikts. Doch auch Gujral verteidigt die Einladung an Musharraf, der sich gestern zum Staatspräsidenten vereidigen ließ: „Wir sind Nachbarn und müssen letztlich miteinander auskommen. Je früher wir uns entscheiden miteinander in Frieden zu leben, desto besser für beide Völker. Wir wollen nicht auf den Moment in der Geschichte warten, wenn die Regierung in Pakistan für uns mehr akzeptabel ist. Die Pakistaner müssen selbst über ihre Regierung entscheiden.“

Seit Musharraf die Einladung nach Delhi annahm, machen kaschmirische Unabhängigkeitskämpfer durch vermehrte Überfälle auf sich aufmerksam. Sie erhöhen zugleich den Druck auf die Regierung in Islamabad, die Forderung nach Kaschmirs Unabhängigkeit in den Mittelpunkt der Gespräche zu rücken.

RAJVINDER SINGH

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