: Verteidiger kritisieren Prozeßrecht
■ 300 Strafverteidiger und Juristen trafen sich am Wochenende in Osnabrück / In den Brennpunkt der Kritik gerieten die unter dem Vorwand des Opferschutzes eingeführten Aushöhlungen von Beschuldigtenrechten
Von Johannes Eisenberg
Osnabrück (taz) - Mit Erschrecken stellten die rund 250 Teilnehmer des 11. Strafverteidigertages, der gestern in Osnabrück zu Ende ging, fest, daß in den letzen Monaten wesentliche Teile einer 1982 bekanntgewordenen „Horrorliste“ von Verfahrensänderungen heute strafprozessuale Realität geworden sind. Deren Ankündigung hatte noch vor wenigen Jahren zu einem Sturm von Protesten geführt und die Idee eines „Verteidigerstreiks“ geboren. So sind Fragerechte von Verteidigern und Beschuldigten eingeschränkt worden, und polizeiliche Vernehmungsprotokolle können in Hauptverhandlungen leichter verlesen werden, obwohl diese meist ohne die Kontrolle durch Beschuldigte oder Verteidiger zustande kommen. Schließlich können sich Zeugen heute anhand von Ermittlungsakten auf die Verhandlung vorbereiten. In einem Einleitungsreferat zu der Veranstaltung wies der Strafrechtler Ingo Müller darauf hin, daß der Strafprozeß ein „Seismo graph“ der Staatsverfassung sei, und daß man jede wesentliche Verschiebung in der politischen Struktur eines Landes an einer entsprechenden Umgestaltung der Strafprozeßordnung ablesen könne. Ausgerechnet das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hatte in einem Verfahren gegen einen türkischen Flüchtling eine Untersuchung des Max–Planck Institutes zitiert, das in einer synoptischen Gegenüberstellung des türkischen Militärstrafverfahrensrechtes und der deutschen Strafprozeßordnung weitgehende Übereinstimmungen, teilweise sogar eine liberalere Ausgestaltung des türkischen Militärstrafrechtes festgestellt hat. „Entweder unsere führenden Strafprozeßdenker haben geirrt, und es wäre tatsächlich möglich, daß mitten in Europa ein zivilisierter demokratischer Staat mit dem Strafprozeßrecht einer Bananenrepublik oder gar einer faschistischen Diktatur existiert, oder dieses heruntergekommene Strafprozeßrecht wäre tatsächlich symptomatisch für den Zustand unseres Gemeinwesens“, zog Müller düster Bilanz. Ansätze, das irrationale Prinzip der Vergeltung, das dem deutschen Strafverfahren zugrunde liegt, durch neue Formen der Konfliktlösung zu ersetzen, seien völlig in den Hintergrund getreten, stellten die Teilnehmer einer Arbeitsgruppe fest. Das neue Gesetz stärke in Wirklichkeit nicht die Position des Opfers, sondern die der Ermittlungsbehörden und der Gerichte und behindere einen vernünftigen Interessenausgleich. Das Opferschutzgesetz vom Dezember 1986 soll deshalb, so forderten die Anwälte, so schnell wie möglich wieder abgeschafft werden. Angegriffen wurde auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, der in den letzten Jahren illegale Ermittlungs– und Vernehmungsmethoden der Polizei wie Lauschangriffe, Provokation von Straftaten durch Lockspitzel und V–Leute oder Aktenfälschung für unbedenklich erklärt hatte. Die Teilnehmer forderten in einer Arbeitsgruppe für derartige Fälle Beweisverbote und in schwerwiegenden Fällen die Einstellung von Verfahren nach us–amerikanischem Vorbild.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen