Verschwörungstheorien in Corona-Zeiten: Erichs Rache
Rechts wie links mutmaßen Verschwörungstheoretiker, „die Medien“ schürten für Regierungen „Corona-Hysterie“. Grundwissen in Naturwissenschaften hilft.
„Corona-Hysterie“ oder „Corona-Panik“: Von rechts wie links wird gemutmaßt, dass diese von „den Medien“ geschürt werde, im Dienste von irgendwelchen sinisteren Gruppen da oben, Regierungen und Konzernen, die den autoritären Staat wollen. Als Vorübung für den Faschismus oder zur kapitalistischen Optimierung der Gesellschaft, mutmaßen die ganz kritischen Geister von links.
Von rechts klingt es ähnlich, nur dass noch irgendwas mit Umvolkung, Rothschild und Soros reinmuss. Wobei die Angst der Faschisten vor dem autoritären Staat natürlich etwas Komisches hat. Das Tempo, mit dem nicht für möglich gehaltene Einschränkungen gerade umgesetzt werden, ist für eine freie Gesellschaft schier atemberaubend.
Als sich Ähnliches vor gerade einmal zwei Monaten in China ereignete, schauten wir staunend und kopfschüttelnd zu und murmelten, dass so etwas hierzulande undenkbar sei. Nun sitzen wir seit diesem Wochenende ratlos in unseren Wohnungen, mit Reisebeschränkungen, die Erich Honecker Tränen der Rührung in die Augen getrieben hätten, und dürfen unseren Zorn über den verblüffenden Winkelzug des Kapitals, den Kapitalismus jetzt einfach stillzulegen, nicht mal mehr beim linksautonomen Stammtisch um die Ecke kundtun, weil die Kneipen halt auch alle dicht sind.
Demokratisches Virus
Dumm nur, dass in ihren Stuben immer noch diese lästigen Wissenschaftler herumsitzen, die einmal mehr darauf beharren, dass Viren sich ebenso wie CO2-Moleküle nicht an staatliche Gesetze, sondern ausschließlich an die der Natur halten. Und die besagen ganz schlicht: Eine Infektion erfolgt, wenn Mensch A mit dem Krankheitserreger von Mensch B in Kontakt kommt, und dass eine bestimmte Zahl der A-Menschen das am Ende nicht überlebt. Das ist keine Hysterie, sondern theoretisch gut verstanden und empirisch belegt, Covid-19 ist ja nicht die erste Pandemie.
Dabei ist das verursachende Virus Sars-CoV-2 ziemlich demokratisch: Es befällt bräsige Karnevalistinnen ebenso wie hippe Clubbesucher, Hollywood-Celebritys wie altersschwache Heimbewohnerinnen, faschistische Staatenlenker wie klerikalfaschistische Ajatollahs. Es wird auch nicht haltmachen vor den Aktivistinnen linker Stadtteilfeste oder Demonstranten gegen zu hohe Mietpreise.
So ist es letztlich mit dem Virus wie mit dem Klimawandel, der Biodiversitätskrise oder der Homöopathie: Die Natur, diese hyperautoritäre Überregierung, schert sich einen Dreck um die Debatten ihrer Geschöpfe mit den lustigen Theorien.
Natürlich ist es richtig, dass bei anderen Krankheiten oder beim Straßenverkehr ebenfalls hohe Opferzahlen in Kauf genommen wurden, ohne dass vergleichbar drastisch reagiert wurde. Es deswegen bei einer neuen Pandemie ebenso zu halten, ist kein gutes Argument.
Diesmal Mathe statt Marx
Zumal ganz offensichtlich bei manchem einfache Gesetzmäßigkeiten wie fehlender Herdenschutz und exponenzielles Wachstum nicht ganz verstanden werden. Wo der Mathe-Unterricht jetzt jenseits der Schulzimmer abgehalten werden muss, böte sich da für manche Hysterie-Hysteriker die Chance zum Nachbessern via Einklinken in Online-Lerneinheiten. Auch für soziale Fragen helfen manchmal Grundkenntnisse in Naturwissenschaften mehr als in marxistischer Theorie.
Dann käme man vielleicht zu der Erkenntnis, dass die aktuellen Maßnahmen – über deren Details natürlich gestritten werden kann – nicht der überbordenden Fantasie von Autoritätsfetischisten entspringen, sondern bereits ziemlich verspätet kommen, weil eine freiheitsgewöhnte Gesellschaft und auf Wahlerfolge fixierte Politik sich schwer damit taten, das umzusetzen, was wissenschaftlich längst geboten war. Schon das hatte einen Preis – der in zwei bis drei Wochen auf den Intensivstationen des Landes bezahlt wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!