Verschleppung von jungen Frauen: „Es gibt sehr wenige Daten“
Finden Zwangsverheiratungen in den Sommerferien statt? Nicht unbedingt: Das Phänomen ist komplexer, weiß die Berliner Kriseneinrichtung Papatya.
taz: Können Sie den Unterschied zwischen Zwangsverheiratung und Verschleppung erklären?
Papatya: Zwangsverheiratung und Verschleppung sind verwandte Formen von familiärer Gewalt und Kontrolle über das Leben der eigenen Kinder bzw. Töchter. Aber es sind eigenständige Phänomene. Zwangsverheiratet zu werden bedeutet, gezwungen zu werden, einen Ehepartner oder eine -partnerin zu heiraten. Unter Verschleppung verstehen wir die Verbringung der Kinder ins Ausland bzw. ins Herkunftsland der Familie – meist unter Vortäuschung falscher Tatsachen wie eines Urlaubs. Ziel ist es, die Tochter dort erst mal gegen ihren Willen zurückzulassen und an der Rückkehr nach Deutschland zu hindern. Das kann im Zusammenhang mit einer Zwangsverheiratung stehen, aber das ist nicht der Regelfall. Verschleppungen sind meist anlassbezogen.
taz: Was heißt das?
Papatya: Dass es einen akuten Grund gibt. Das kann eine vorherige Unterbringung in der Jugendhilfe sein, wo Mädchen sich überreden lassen, wieder nach Hause zu gehen, und dann wird diejenige verschleppt. Diese Erfahrung haben wir auch mit ehemaligen Bewohnerinnen unserer anonymen Kriseneinrichtung gemacht. Häufig ist der Anlass einer Verschleppung ein heimlicher Freund, der aufgeflogen ist. Wir haben auch schon Fälle gehabt, wo jemand hier in Deutschland versucht hat, die Eltern wegen der drohenden Zwangsverheiratung anzuzeigen – und als Antwort wurde die Betroffene außer Landes gebracht. Im Ausland gibt es die Hilfsmöglichkeiten, die es hier gibt, in diesem Ausmaß eben nicht.
Die Berliner Kriseneinrichtung Papatya unterstützt seit 1986 Mädchen und junge Frauen, die von familiärer Gewalt, Zwangsverheiratung und Verschleppung betroffen sind. Zum Schutz der MitarbeiterInnen wurde das Interview anonym geführt.
taz: In den Sommerferien steigt wohl die Zahl der Zwangsverheiratungen. Mädchen würden in das Heimatland gebracht und während des Urlaubs dort verheiratet. Dann kommen sie nicht mehr wieder. Stimmt das?
Papatya: Es gibt dazu sehr wenige Daten. Wir haben seit 2013 einen Beratungsschwerpunkt zum Thema Verschleppung und konnten in dieser Zeit einen Blick auf viele Fälle werfen. Unsere Zahlen deuten nicht darauf hin, dass die Zahlen in den Sommerferien deutlich steigen. Verschleppungen passieren das ganze Jahr über. Der Zeitpunkt, wann Betroffene einen Hilferuf absetzen können, ist unterschiedlich. Dennoch ist die Präventionsarbeit vor den Sommerferien sehr wichtig. Und es kommt auch ein Stück weit daher, dass natürlich die Schulen ein Dreh- und Angelpunkt sind, zu erkennen, ob Jugendliche oder junge Frauen oder Mädchen verschleppt werden.
taz: Weil?
Papatya: Weil es dort auffällt, wenn im nächsten Schuljahr eine Jugendliche nicht mehr da ist. Wir haben vor ein paar Jahren eine Befragung in Berliner Schulen gemacht – jeweils vor und nach den Sommerferien. Ein Anstieg von Verschleppungsfällen konnte dadurch nicht festgestellt werden. Das hat aber auch damit zu tun, dass der Rücklauf sehr gering war. Viele Schulen sind personell überlastet.
taz: Zwangsehen oder Verschleppungen werden meist mit dem Islam in Verbindung gebracht. Kann man das so pauschal sagen?
Papatya: In unserer Beratung kommt der Großteil der Betroffenen aus Herkunftsländern, in denen der Islam die Mehrheitsreligion abbildet. Aber die Religiosität der Familie sagt wenig über die Bereitschaft aus, die eigenen Kinder gegen ihren Willen zu verheiraten oder zu verschleppen. Es geht in diesen Fällen nicht um Religion, sondern darum, wie konservativ und patriarchal Familien sind.
taz: Wie sieht Ihre Präventionsarbeit aus?
Papatya: In erster Linie ist unsere Aufgabe, Betroffene zu beraten und ihnen zur Seite zu stehen. Unsere Kriseneinrichtung ist 24 Stunden besetzt, im Notfall können wir jederzeit eine bedrohte junge Frau aufnehmen. In der Beratungsarbeit bedeutet Prävention oft längere Prozesse, um die Betroffenen zu unterstützen. Ein weiterer großer Teil ist die Beratung von Fachleuten. Und die Schulen sind ein sehr wichtiger Ort für Präventionsarbeit – oft der einzige Ort, an dem die Jugendlichen nicht von den Familien kontrolliert werden können. Wir bilden Schulpersonal fort, setzen uns aber nicht selbst vor eine Klasse. Unsere Präventionsarbeit besteht außerdem in unseren Infomaterialien, unserer Website oder Kampagnen, die wir in Kooperation mit den Mädchen in der Kriseneinrichtung erarbeiten – weil wir sicherstellen wollen, unsere Zielgruppe zu erreichen.
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