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Verschärfter Kimble

■ Paranoia und Pessimismus a la americaine: Die US-Serie "Nowhere Man - Ohne Identität!" (Sa., 23.15 Uhr, RTL)

Vom ersten Moment an ist äußerste Aufmerksamkeit geboten. Nicht zufällig beginnt der Pilotfilm mit einem ausgiebigen Blick auf ein Reportagefoto. Es trägt den Titel „Hidden Agenda“ und zeigt offenbar ein Kriegsverbrechen. Die Besucher der Vernissage sind äußerst angetan von den Exponaten, allein Tom Veil, der Fotograf der Bilder, fühlt sich unbehaglich inmitten des Geraunes und Geplauders der Kunstmarktschickeria. Er überredet seine Ehefrau, die Ausstellung vorzeitig zu verlassen. Sie wechseln in ihr Stammlokal. Vail zieht sich kurz auf die Herrentoilette zurück, um eine Zigarette zu rauchen. Als er zurückkommt, hat sich die Welt für ihn verändert: Seine Frau ist verschwunden, an ihrem Tisch sitzt ein älteres Ehepaar, der Wirt scheint Vail nicht mehr zu kennen und läßt ihn vor die Tür setzen. Vail trifft seine Frau zu Hause an, wird von ihr jedoch wie ein Fremder behandelt und von ihrem angeblichen Ehemann mit der Waffe bedroht. Weitere Rätsel tun sich auf: Vails Kreditkarte ist ungültig, die Schlösser seiner Ateliertüren wurden ausgetauscht, ein brisantes Foto ist aus der Ausstellung verschwunden. Vail sucht die Hilfe eines engen Freundes und findet dessen Leiche. Anderntags stellt er seine Frau zur Rede. Die gibt zunächst an, auf Befehl gehandelt zu haben, verrät ihn dann aber an die Polizei. Vail landet in einer psychiatrischen Abteilung. Hier und nach gelungener Flucht erhält er Hinweise, daß er Opfer einer großangelegten Verschwörung wurde, die mit jenem spektakulären Foto zu tun hat, dessen Negativ sich noch immer in Vails Händen befindet...

Fünfundzwanzig Episoden lang wird Tom Vail vor seinen ominösen Häschern davonlaufen und, beileibe nicht ohne Selbstzweifel, zugleich bemüht sein, Belege für seine radikal ausgemerzte frühere Identität zu finden. RTL indes zeigt – jeweils donnerstags um 23.15 Uhr – zunächst nur acht Folgen der außergewöhnlichen US- Serie und behält die bizarre Auflösung vorerst für sich.

„Nowhere Man“ ist eine komplexe Serienerzählung, deren vertüftelte Machart sich erst in Kenntnis der Konklusion angemessen würdigen läßt. Augenfällig und durchaus gewollt sind Parallelen zu Serienklassikern wie „Auf der Flucht“ und „Nummer sechs“, aber auch zu Kinofilmen wie „Blow Up“ und „Der unsichtbare Dritte“. Der Rekurs auf ein typisches Sujet der sechziger Jahre scheint nicht zufällig. Viele sogenannte „Mystery“-Serien jüngerer Produktion haben Entsprechungen in jener Epoche, als sich die, u.a. durch das Kennedy-Attentat ausgelöste, gründliche Verstörung der US-amerikanischen Gesellschaft auch in den Fernsehproduktionen abbildete. In „Auf der Flucht“ beispielsweise wurde ein saturierter Biedermann von einem Moment auf den anderen seiner bürgerlichen Existenz beraubt und zu einem Leben in der Illegalität gezwungen, in „Invasion von der Wega“ focht ein einzelner einen schier aussichtslosen Kampf gegen Außerirdische, die das System bereits weithin unterwandert hatten.

Neu hingegen ist das in vielen aktuellen Serien anklingende – und mit einschlägigen Umfragen korrespondierende – Mißtrauen gegenüber Geheimdiensten und anderen Institutionen. Waren in Serien wie „Knight Rider“, „Mac Guyver“ oder „E. A. R. T. H. Force“ die sogenannten „Foundations“, die in den USA häufig gemeinnützige Aufgaben übernehmen, Garanten für Fortschritt und Gerechtigkeit, so geben vergleichbare Organisationen in jüngeren Serien wie „Pretender“, „Akte X“, „Dark Skies“ und auch „Nowhere Man“ einen anonymen, kaum faßbaren Feind ab, der weitgehende Kontrolle auszuüben in der Lage ist, wobei gemeinhin offenbleibt, ob dies in Opposition zur gewählten Führung oder in deren Auftrag geschieht.

Wie einst Richard Kimble, so wird der „Nowhere Man“ Tom Vail kreuz und quer durch die USA getrieben. Unter Hobos und Ausgestoßenen lernte Kimble die Kehrseite des American Dream kennen, und auch Vail muß, Frank Capra widerlegend, erfahren: „It's Not Such A Wonderful Life“. So lautet der Titel von Episode 12, dem manch ein US-Zuschauer unbesehen zugestimmt haben dürfte. Harald Keller

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