: Verlorenes Paradies
Der aus Algerien stammende spanisch-jüdische Sänger Enrico Macias wollte Orient und Okzident versöhnen. Doch die Tournee wurde abgesagt
Fast vier Jahrzehnte danach wollte Enrico Macias zurückfahren nach Constantine – 200 Kilometer südöstlich von Algier, von wo aus seine Familie wie 20.000 andere Mitglieder der örtlichen Jüdischen Gemeinde im Juni 1961 in aller Hast geflohen war, nachdem ihr beliebtester Sänger Cheikh Raymond Leyris vor dem Markt mit einem Schuss in den Nacken ermordet worden war. Macias wollte singenderweise „eine Brücke sein, die Orient und Okzident versöhnt“. Wollte in die Fußstapfen des Malouf treten – der arabo-andalusischen Musik, die bis zum Algerienkrieg für die Kulturverschmelzung auf beiden Seiten des Mittelmeers stand.
Doch der Sänger, der in den vergangenen Jahrzehnten mit französischsprachigen Chansons weltweit 60 Millionen Platten verkauft hat und der erst vor wenigen Monaten mit einer ausschließlich arabisch gesungenen Malouf-CD zu seinen musikalischen Wurzeln in Constantine zurückgekehrt ist („Hommage à Cheikh Raymond“), hatte sich zu früh gefreut. Am Sonntag musste er von Paris aus seine für die zweite Märzhälfte geplante algerische Tournee absagen. Aus „rein organisatorischen Gründen“, behauptete Macias und versicherte, dass er die Reise „ganz sicher“ zu einem späteren Termin nachholen werde.
In Constantine, wo bereits seit Wochen drei verschiedene Komitees Macias’ Konzert und das Nebenprogramm vorbereiteten, hatten zugleich Islamisten eine intensive Kampagne gegen diese „Normalisierung mit Israel“ lanciert. Eine Vollversammlung der „Chouhada“, der „Vereinigung der Märtyrer des Unabhängigkeitskrieges“, die gegen die Anreise des „Kollaborateurs“ protestierte, geriet am Donnerstagabend zu einer Saalschlacht. Dabei hatte der algerische Präsident Bouteflika persönlich den Sänger zu dem Konzert geladen. Und die knapp eine Million Aussiedler aus der früheren algerischen Kolonie, die heute in Frankreich leben, verstanden das als Versöhnungsgeste, die irgendwie an sie alle gerichtet war.
Die strenge Malouf-Musik mit arabischen Texten, in die Enrico Macias in den 50er-Jahren von Leyris eingeführt wurde, hatte der Weltstar, der neben dem Pariser Olympia auch den Madison Square Garden in New York und das Dynamo-Stadion in Moskau füllte, jahrelang nach seiner Flucht im Koffer verstaut. „Es ging nicht“, sagt er. Seit er sich wieder am Malouf – modernisiert mit einer spanischen Gitarre im Begleitorchester – versucht, erobert er eine neue Fan-Gemeinde auf beiden Seiten des Mittelmeers. Wenn er von „Heimat“ singt, versteht seine konfessionsübergreifende Fan-Gemeinde, dass jene Orte gemeint sind, von denen sie vertrieben wurden und die für die meisten von ihnen in der Erinnerung zu einem verlorenen Paradies geworden sind. DOROTHEA HAHN
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