: Verlorene Unschuld
■ Gorbatschow und die Armenier
Statt der versprochenen Lösungsvorschläge hat die sowjetische Parteiführung Soldaten geschickt. Statt die Diskussion über die Nationalitätenkonflikte offen zu führen, ist ein großer Teil der Presse in altbekannter Manier über eine ganze Bevölkerungsgruppe hergefallen. Statt eine Zukunftsvision für die Nationalitätenfrage zu entwickeln, wurde Verbitterung bei den Armeniern erzeugt. Der Deckel ist festgeschraubt, der Druck wird höher, die Explosionsgefahr steigt. Repressionsmaßnahmen lösen keine Konflikte, sondern verschärfen sie. Fehlende Offenheit und fehlende Transparenz sind die Erscheinungsformen der gesellschaftlichen Stagnation. Gerade aus diesen einfachen Wahrheiten heraus wollte die Politik des „Neuen Denkens“ andere Formen gesellschaftlicher Konfliktlösungen durchsetzen. Wer aber Glasnost sagt und Repression bietet, führt die Ansprüche der eigenen Politik ad absurdum. Gorbatschow ist dabei, seine politische Unschuld zu verlieren. Der Rückfall in die alten Muster der sowjetischen Innenpolitik ist in diesem Fall nicht von der Politik des Generalsekretärs zu trennen. Die Konzeptionslosigkeit der Nationalitätenpolitik ist Grund des Übels. Die Armenier jedenfalls sind von Gorbatschow zu recht enttäuscht, solange die offene, umfassende Diskussion über die Konflikte nicht begonnen wird. Erich Rathfelder
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