Verlierer des Atom-Ausstiegs: Unter der weißen Kuppel
Seit 30 Jahren lebt Brokdorf mit und vom AKW. Nun versiegen die Steuereinnahmen, die Gemeinde muss sich auf schwierigere Zeiten einstellen.
KIEL taz | Den schönsten Blick bietet Brokdorf vom Deich aus: Voraus liegt die glitzernde Weite der Elbe, schräg rechts läutet die Kirche vom schwarzen Spitzturm jede Stunde mit einem fordernden Ping ein. Schräg links ragt der Rutschen-Turm des Freibades wie ein angespitzter Buntstift hervor. Es herrscht mittäglicher Frieden, kaum Verkehr auf der Dorfstraße, nur im Freibad schwatzt ein Radio. Vögel schwirren über die Deichkrone, deren Gras so grün ist wie gemalt.
Der Deich bei Brokdorf: In den 80er-Jahren tobte hier mit Steinen und Wasserwerfern der Kampf um die Zukunft der Energieversorgung, und rein optisch hat die Atomkraft gewonnen. Einige Kilometer rechts die Elbe entlang steht der schwarze Klotz des AKW Brunsbüttel. Und links, fast zum Greifen nahe, die weiße Kuppel, die viele im Dorf halb spöttisch, halb liebevoll „unsere Moschee“ nennen. Brokdorf lebt seit 30 Jahren mit dem Atomkraftwerk, und es lebte die meiste Zeit gut vom Atomkraftwerk. Aber der Tag der Abschaltung ist in greifbare Nähe gerückt, und schon jetzt sinken die Einnahmen aus der Gewerbesteuer. Also hat Elke Göttsche ein Problem.
Futuristische Geräte
Die Bürgermeisterin von Brokdorf sitzt in ihrem Wohnzimmer mit Blick auf den Elbdeich und trinkt Kaffee. Nach landläufiger Meinung steht die CDU-Politikerin einen Ort vor, der jahrelang nicht wusste, wohin mit dem Geld. Göttsche, kurze Haare, Jeans und T-Shirt, seit einem Vierteljahrhundert Mitglied des Gemeinderats, hebt die Schultern: „Haben Sie irgendwo goldene Bürgersteige gesehen?“ Brokdorf habe sich nicht vom Übermut leiten lassen, sondern „geschaut: Was können wir uns leisten, was ist gut für die Region?“
Was gut ist für Brokdorf und die Region, liegt an der langgestreckten Dorfstraße, der Lebensader des Ortes, wie Perlen aufgereiht: Das Freibad, ein „Mehrgenerationenplatz“ mit futuristischen Trainingsgeräten, eine Sport- und Freizeithalle mit einem „Haus der Vereine“. Die Gemeinde, in der rund 990 Menschen leben, besitzt und verpachtet mehrere Gebäude: In einem befindet sich ein Supermarkt, in einem anderem ein Café. Eine Kita und eine Reihe von Wohngebieten sind im Laufe der Jahre entstanden.
Und dann ist da noch E-I-S, das Elbe-Ice-Stadion. Die Eishalle lockt Gäste in den Ort, im Winter finden Discos auf Schlittschuhen statt – ein Erfolg. Aber die Gäste von außerhalb bringen keine regelmäßigen Umsätze, die eigenen Vereine füllen die Halle nicht, und den Betrieb ganzjährig laufen zu lassen, wäre viel zu teuer. Das EIS braucht Zuschüsse, ebenso wie Freibad, Vereinshaus, Kita. Auch ohne die notwendige Sanierung des Freibades – ein Gutachten spricht von 2,5 Millionen Euro – beträgt der Unterschuss im Jahr fast eine Million, hat Gero Kleis ausgerechnet: „Eines Tages müssen wir rückbauen, aber wir versuchen, die Dinge so lange wie möglich zu halten“, sagt der SPD-Politiker, der noch länger im Gemeinderat sitzt als Elke Göttsche: seit 32 Jahren.
Kleis war immer die Opposition. Nicht dass er etwas gegen Atomkraft hätte. Er hat selbst im Werk gearbeitet, allerdings nicht in der weißen Kuppel, sondern im schwarzen Klotz, drüben in Brunsbüttel. Aber im Bauernland an der schleswig-holsteinischen Westküste gewinnt die SPD keine Gemeinderatswahlen, das ist wie ein Gesetz. In Brokdorf, wo viele der 350 AKW-Angestellten wohnen, hatte der Ortsverband in Spitzenzeiten 30 Mitglieder. Viele gaben ihre roten Bücher zurück, als die SPD auf einmal die Atomkraft ablehnte. Kleis blieb Genosse und Atomkraft-Befürworter.
„Dass das Werk eines Tages abgeschaltet wird, das stand von vornherein fest“, sagt er. Nun soll der Ausstieg etwas früher als geplant kommen, schon 2021. Darauf hätte die Gemeinde, hätte der Gemeinderat vorbereitet sein müssen, meint Kleis. Er hatte vor dem Bau der Eishalle gewarnt, sogar einen Bürgerentscheid organisiert, aber die Mehrheit überstimmte ihn. Heute, angesichts leerer Kassen und hoher Kosten, „könnte ich mir auf die Schulter klopfen, weil ich Recht hatte – aber was habe ich davon? Jetzt steht die Halle nun mal da.“
Im Häuschen am Deich
Aber alles in allem lebt es sich immer noch gut in Brokdorf, da sind sich Elke Göttsche, Gero Kleis und sogar Karsten Hinrichsen einig. Hinrichsen zog vor 40 Jahren nach Brokdorf, weil er auf dem Land leben wollte, wegen der guten Luft und der Elbe, und weil er schon Leute kannte, durch den Widerstand gegen die weiße Kuppel. „Optisch gefällt sie mir“, meint er. „Sie darf gern bleiben – als Klettergerüst oder Freizeitpark.“ Nur gegen den Betrieb des Werkes kämpft der inzwischen pensionierte Meteorologe seit Jahrzehnten. In seinem Häuschen am Deich, das sich von denen der Nachbarn durch die Sonnenkollektoren auf dem Dach unterscheidet, formuliert er gerade eine Einwendung, bei der es um die Grenzwerte während des Rückbaus des AKW Brunsbüttel geht.
Hinrichsen gehört zu den Initiatoren einer Demo in Brokdorf, die am Sonntag, dem Jahrestag des Tschernobyl-Unglücks, stattfindet. Es geht gegen die „Politik, die nicht die Reißleine zieht“ – Hinrichsen und seine Mitstreiter kritisieren, dass die Landesregierung dem AKW Brokdorf nicht die Betriebsgenehmigung entzieht, obwohl es für den Atommüll kein Endlager gibt. Und ihn stört, dass der Gemeinderat immer noch vor „dem großen Zampano“, dem Kraftwerk-Betreiber Eon, kuscht: „Warum die jetzt, da die Steuern zurückgehen, nicht aus der emotionalen Fessel herauskommen, verstehe ich nicht.“
Vielleicht, weil das Band zwischen Gemeinde und der weißen Kuppel tatsächlich sehr eng geknüpft ist, nicht nur durch Geld, sondern auch durch Menschen, die im Werk arbeiten und im Ort leben, durch gemeinsame Feiern und Veranstaltungen. Das AKW ist ein guter Arbeitgeber, weil es die Feuerwehrleute schnell gehen lässt, wenn es brennt, so was ist wichtig auf dem Land. Elke Göttsche fühlt sich vom Werk, das kaum mehr Steuern zahlt, nicht im Stich gelassen: „Wir wissen alle, dass es in der Branche gerade nicht einfach ist.“ Aber die CDU-Frau hat auch Verständnis für „sensible Menschen“ wie das Brunsbüttler Ehepaar, deren Klage gegen das Zwischenlager am schwarzen Klotz Erfolg hatte. Die Richter in Schleswig gaben ihnen Recht, dass das Zwischenlager gegen Flugzeugabsturz oder Terrorangriff nicht gewappnet sei. Die Castoren in Brokdorf werden ähnlich aufbewahrt wie die in Brunsbüttel – dass das nicht verboten wird, liegt an rechtlichen, nicht materiellen Unterschieden.
Ein Flugzeugabsturz, ein Attentat: „Man kann so ein Szenario nicht ausschließen“, sagt Elke Göttsche. „Aber wenn man ständig darüber nachdenken würde, was alles passieren kann, würde man sein Leben schon sehr belasten.“ Nur dass die Brokdorfer nun auch noch Strahlenmüll aus Brunsbüttel übernehmen, schließt die Bürgermeisterin aus: Der eigene reicht ihnen.
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