piwik no script img

■ Ein Jahr nach Auflösung der TschechoslowakeiVerliebt in die eigene Isolation

Vor einem Jahr entstanden in Europa zwei neue Staaten. Hatte dies irgendeinen Sinn?

Zunächst einmal ist es gut, daß die Slowaken endlich die Lektion erhielten, die sie sich nur selbst geben konnten. Im gemeinsamen Staat der Tschechen und Slowaken hätte sich ihr Glaube an populistische Führer, ihre Neigung zum Selbstmitleid wohl erhalten, und bis heute würden sie all ihre Schwächen auf die tschechische Niedertracht zurückführen. Das Schlimmste haben sie nach diesem Jahr so bereits hinter sich: Sie wissen, daß es mehr Dinge gibt, für die sie selbst verantwortlich sind. Ja, sie haben in sich schon eine nicht zu vernachlässigende Quelle der Immunität gegen autoritäre Regierungsmethoden entwickelt, eine Immunität, von der wir auch in Böhmen, Mähren und Schlesien mit Sicherheit nicht genug haben.

Weniger gut freilich ist, daß beide Nachfolgestaaten kleiner und schwächer als die Tschechoslowakei sind. Über die Folgen dieser unumkehrbaren geopolitischen Tatsache der Teilung hat sich keiner ihrer lautstarken Protagonisten geäußert. Die ungarisch-slowakischen Beziehungen haben sich gerade im letzten Jahr entscheidend verschlechtert, die deutsch-tschechischen ebenso. Was früher nur von (dem Vorsitzenden der Sudetendeutschen Landsmannschaft) Neubauer zu hören war, tönt jetzt auch aus München und Bonn. Für unseren Eintritt in die Europäische Union wurden ebenso wie für den Bau der für uns so wichtigen Pipeline aus Ingolstadt von den Deutschen ein Entgegenkommen gefordert, auf das wir im besten Fall noch nicht vorbereitet sind, das wir im schlechtesten Fall ablehnen müssen.

Wir sollten uns nicht darüber wundern, daß die Tschechische Republik für die Welt weniger interessant ist als die Tschechoslowakei. Zum einen sind wir kleiner, vor allem aber haben wir im letzten Jahr die Verantwortung für den Teil Europas, in dem wir leben, aufgegeben. Wir verschließen uns in uns selbst. Wenn uns jetzt so viel daran liegt, daß allen klar ist, daß wir uns nur für uns selbst interessieren, dann sind wir zwar ein stabiles, ethnisch reines Stück Erde. Vor vier Jahren wurden wir jedoch gerade dafür geachtet, daß wir nach allen Seiten offen waren.

Die Tschechische Republik steht heute alleine da, ist isoliert, wie die nachrevolutionäre Tschechoslowakei es nie war. Wir haben keine Feinde, aber wir haben auch keine Freunde, keine natürlichen Verbündeten. Wie sollten wir auch, wenn wir unsere politischen Repräsentanten nach allen Seiten Lektionen erteilen lassen, wie man die Reformen zu gestalten hat. Es genügt uns ein Spiegel – und mit ihm vergewissern wir uns ständig, daß wir die Schönsten von allen sind. Unsere Nachbarn dienen uns nur dazu, um an ihren Mißerfolgen unsere Erfolge zu demonstrieren. Wenn wir die ökonomisch zurückfallende und politisch instabile Slowakei nicht hätten, müßten wir sie – als Beweis unserer Großartigkeit – erschaffen. Von unseren eigenen Problemen aber (Produktion und Produktivität fallen, die Energieverschwendung steigt) lenken wir ab und verweisen auf die beispielhafte Ordnung in den Tresoren der Staatsbank.

Wir sind isoliert, weil wir uns selbst isolieren. Wir haben in fast der Hälfte der Länder der Erde, mit denen wir diplomatische Kontakte halten, keinen eigenen Botschafter. Das betrifft sogar Ungarn, ein Schlüsselland Mitteleuropas. Als Staat wollen wir uns nirgendwo einmischen: nicht in Bosnien, nicht an der slowakischen Donaugrenze zu Ungarn. In Mitteleuropa sind jedoch alle Inseln, seien sie stabil und prosperierend, oder unruhig und notleidend, niemals von festem Bestand. Das Schicksal Mitteleuropas ist nicht teilbar. Ich weiß nicht, für wen es gut ist, daß die beiden neuen Staaten sich in einem Tempo voneinander entfernen, das auch der größte Skeptiker nicht erwartete. Wahrscheinlich trennen wir uns so schnell, damit wir der Welt zeigen können, daß gerade wir zum Westen gehören.

Auf der anderen Seite ist es gut, daß gerade dank der kleinen tschechischen Splendid isolation wir etwas über uns wissen, was wir vorher nicht wußten. Wir wissen, daß wir nicht wissen, wie wir unseren neuen Staat nennen sollen. Wir wissen, daß einige von uns nicht wissen, welcher Tag der tschechischen Geschichte für uns der wichtigste ist – und ob es einen solchen überhaupt gibt. Einst haben wir uns nach dem Sinn unserer Existenz gefragt („Die tschechische Frage“), heute haben wir nicht einmal eine offizielle, staatliche Antwort, für die wir eine Frage vortäuschen könnten. Wir sind, weil wir sind. Wir sind, weil wir uns geteilt haben. Wir haben uns geteilt, weil wir es dann besser haben werden. Besser, weil wir die Frage der Teilung endlich los sind.

Die Hauptsache ist jedoch, daß wir uns nicht länger darauf herausreden können, daß die Slowaken, und die Verhandlungen mit ihnen, uns von dem Hauptsächlichen abhalten. Und das ist der Aufbau der Prosperität. Jetzt haben wir endlich erfahren, wie es um uns bei diesem Aufbau steht. Befreit von wortreichem Ballast, gibt die große Mehrheit von uns einer Regierung der „starken Hand“ den Vorzug vor der „demokratischen Diskussion“. Und so haben wir auch die Regierung, die wir verdienen: nur anders paternalistisch, als wir es gewohnt waren, nur anders etatistisch. Sie muß für uns schließlich die „epochale Aufgabe des komplizierten Transformationsmanövers“ durchführen. Hohe Steuern, halb erwürgte Stiftungen, unterbundene nichtkommerzielle Aktivitäten und die Verschiebung der Reorganisation der regionalen Selbstverwaltung. In der Sphäre zwischen Privatem und Staalichem, dort wo in einer wirklich demokratischen Gesellschaft die bürgerliche Öffentlichkeit prosperiert, tummeln sich bei uns die Staatslöwen.

Ich befürchte, daß wir gerade so erwachsen sind, um uns einen wirklichen Feind anzuschaffen, der unserer materialistischen Existenz eine höhere Weihe, einen Sinn geben könnte. Die Deutschen würden sich dafür sicher eignen. Zu Hause haben wir jedoch die Roma, deren Schicksal schon heute unsere Nachbarn mehr beunruhigt als uns selbst, und außerdem – quasi als Reserve – auch noch die Ausländer. Unser Nationalismus wird jedoch sicherlich ein distinguierter. Anstelle primitiver Eierwürfe auf den Staatspräsidenten (wie in Bratislava, d. Red.) wechseln wir auf die andere Seite der Straße, wenn die Jugendlichen irgend jemand zusammenschlagen, der keine tschechische Mutter hat.

Es ist jedoch gut, daß wir schon heute eine weiteres Malheur ahnen: Da nicht nur die stärkste Partei des Landes alle Töne und Halbtöne, die nicht aus Prag kommen, geflissentlich überhört, kann es passieren, daß wir an irgendeinem der kommenden Neujahrstage wiederum die Entstehung von zwei neuen Staaten erleben. Ihre Grenze wird über die böhmisch- mährische Hochebene führen. Und wenn dies passiert, wird es nicht die Schuld der mährischen Nationalisten sein (die gibt es zwar, und natürlich wird die Verantwortung für das Geschehene ebenso auf ihnen abgeladen, wie man das einst bei den Slowaken tat), sondern die Schuld der Selbstverliebtheit Prags. Dann jedoch wird endlich klar sein, wie wir unseren Staat nennen können, und das wird gut sein. Gute Ergebnisse der Staatsteilung gibt es also viele. Wir wissen über uns heute mehr als vor einem Jahr. Und das ist nötig. Petr Pithart

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen