: Verlaß dein Ich, werde viele Schatten
■ Fluchtwege aus einer tödlichen Heimat. Zum Abschluß der Lesereihe „Weibliches Schreiben: Versionen der Differenz“ in der LiteraturWERKstatt
Beinahe wäre Khalida Messaoudi nicht nach Berlin gekommen. Angesichts zweier Attentate, die am Sonntag in Algier verübt wurden, wollte die algerische Frauenrechtlerin, die 1993 von der Islamischen Heilsfront zum Tode verurteilt wurde und seitdem in Verstecken lebt, ihren Vortrag in der LiteraturWERKstatt absagen. Zur Teilnahme entschloß sie sich erst, als eine befreundete Journalistin ihr sagte, daß „es nichts Schlimmeres gebe als den stillen Tod“.
Was in jedem anderen Kontext pathetisch klingen würde, ist angesichts Messaoudis Lage keine Phrase. Detailreich und um Sachlichkeit bemüht schildert sie, was sie am Sonntag in Algier erlebte – bis zum Eingeständnis der Sprachlosigkeit: „Manchmal dringen Laute aus unseren Kehlen, aber sie sind ohne Sinn.“ „Zwischen Sprachlosigkeit und Widerstand“ war das treffende Motto für den ersten Abend der Veranstaltungsreihe, an dem außer Messaoudi die indische Literaturwissenschaftlerin Gayatri Spivak mitwirkte. Die Lesungen zum Thema „Weibliches Schreiben: Versionen der Differenz“ wollen mit theoretischen wie literarischen Arbeiten weiblicher Ästhetik nachspüren und zugleich die unterschiedlichen Perspektiven innerhalb der feministischen Debatte beleuchten (siehe taz vom 10./11. 2.).
Differenz ist dabei nicht nur die Formel, mit der man die „Andersartigkeit“ des Weiblichen oder die Widersprüche zwischen Frauen im Norden und denen im Süden zu fassen versucht. Auch für das Verhältnis von Ost und West kommt sie zum Tragen. Gerade hier aber sei der Anspruch, das andere, das Unbekannte, anzuerkennen, Theorie geblieben, argumentiert die Kulturwissenschaftlerin Dorothea Dornhof, die am Dienstag gemeinsam mit den Autorinnen Jutta Heinrich (Hamburg) und Gabriele Stötzer (Erfurt/Berlin) in der LiteraturWERKstatt zu Gast war. Wo der Dialog ausbleibe, kursieren Stereotypen: einerseits die coole Karrierefrau und die wirtschaftlich abhängige Hausfrau, andererseits die sensible, lebenslustige und selbstbewußte Ostlerin. Während die einen um ihre feministischen Errungenschaften fürchten, begeben sich die anderen auf „rückwärtsgewandte Identitätssuche“.
Tatsächlich zeigen die Texte von Stötzer und Heinrich große Unterschiede. Stötzers Erzählung „Tochtersprache“ aus dem Band „Erfurter Roulette“ zum Beispiel spürt Kindheitserinnerungen nach. Sprachspiele und gegen den Strich gebürstete Redewendungen werden souverän eingesetzt. Heinrich stellt zwei Essays vor, die schwer an allerlei theoretischem Ballast tragen und zugleich festschreiben, was männlich und was weiblich sei. Ironisch solle das sein, erklärt die Autorin, aber so recht will ihr das niemand glauben. In der Lesung von Katharina Höcker und Christina von Braun erfährt der Differenzbegriff eine weitere Wendung: Weibliche Identität wird hier nicht als Einheit erfahren, sondern entzieht sich der Festlegung. Über den Körper kann sie nicht hergestellt werden, da der immer schon Projektionsfläche für den männlichen Blick war. So verschiebt sie sich unaufhörlich, bleibt ungreifbar. In von Brauns Text „Die Schatten werden Körper“ verwandelt sich diese Erkenntnis in ein raffiniertes Schattenspiel. „Das Fatale“, heißt es, „ist nicht das Schattenleben, sondern die Heimat.“ Das „Ich“ des Textes, selbst nur ein Schatten, findet erst dann einen Ausweg, wenn es sich multipliziert und viele Schatten wird. Das, so von Braun, könne durchaus lustvoll sein. Cristina Nord
Heute, 20 Uhr: „Afrikanische Perspektiven: Die Erde und die Stadt“. Mit Yvonne Vera (Simbabwe) und Véronique Tadjo (Elfenbeinküste). LiteraturWERKstatt, Majakowskiring 46-48 in Pankow
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