: Verhexte Lebkuchen
■ Eine Oper mit Zauber und Fantasie: „Hänsel und Gretel“ in Bremerhaven
Bremerhaven hat in der Oper wieder die Position des Oberspielleiters besetzt und mit der deutsch-iranischen Regisseurin Jasmin Solfaghari offensichtlich einen guten Griff getan. Vor ihrer freien Tätigkeit hat sie Musiktheaterregie in Hamburg studiert.
Die jetzige Aufführung von Engelbert Humperdincks Märchenoper „Hänsel und Gretel“ weist auf eine sorgfältige, sehr persönliche Handschrift, die den Zauber und die Phantasie wieder will, die selbstverständlich, völlig unverkrampft und scheinbar leicht daherkommt. So gab es Spinnen, Leuchtkäfer und lustige Baumgesichter im Wald, dazu polterts geisterts und klapperts. Wunderschön gelöst war der Traum der Kinder, wenn Spielzeug und eine Torte vom Himmel schweben und tatsächlich „vierzehn Englein um sie stehn“.
Und Solfaghari will die psychologische Genauigkeit. Mit Daniela Stuckstette als Gretel und Katarzyna Kunico als Hänsel hatte sie zwei Singschauspielerinnen, denen der Wechsel ins Kindsein ohne jede Peinlichkeit gelang. Sehr schön war, dass die Hexe keine Frau war, sondern ein tierähnliches Fabelwesen, das schon seit Jahrhunderten Kinder in Lebkuchen verwandelt: Einige Kinder hatten nach ihrem Wiedererwachen Rokokokostüme an.
Der Entstehungshintergrund des Werkes spielt für Solfaghari keine Rolle: Man weiß lange, dass die Brüder Grimm mit dem Märchen eine ziemlich furchtbare Geschichte umgeformt haben: nämlich die Ermordung von Katharina Schraderin (1618-1647), die als als „Backerhexe“ von den Geschwistern Hans und Grete Metzler in ihrem Haus im Spessart getötet wurde, weil sie ihre berühmten Lebkuchenrezepte nicht herausgeben wollte. Die Hereinnahme dieses Hintergrundes in einen wie auch immer gearteten Inszenierungsansatz würde allerdings das Stück für Kinder als Zuschauer unmöglich machen. Deswegen ist es gut, dass im Progammheft darüber einiges zu lesen ist.
Präzise gezeichnet auch die traurige Familienidylle im ersten Akt, wenn die gestresste und überforderte Mutter die Kinder zum Beerensammeln schickt. Leider sang Zoya Zheleva völlig unzureichend, und auch Oscar Quezadas Vater geriet gesanglich grob. Von Tadeusz Galczuks Hexe versteht man leider kein Wort (Humperdinck hatte die Besetzung durch einen Tenor abgelehnt), und ein Sand- und Taumännchen ist mit einem derart großen Vibrato wie dem von Annette Otterbein keine große Freude.
Musiziert wurde die 1893 uraufgeführte, wagnerhafte Partitur vom städtischen Orchester Bremerhaven unter der Leitung von Hartmut Brüsch, der nach einer eher schwerfälligen und unpoetischen Ouvertüre durchsichtig und empfindlich gegenüber dem szenischen Geschehen agierte. Traumhaft schön und mit liebevollen Utensilien versehen war das Bühnenbild von Luzia Gossmann, was auf eine gute Zusammenarbeit mit der Regisseurin schließen lässt. Insgesamt eine Aufführung, deren selbstverständlichem Zauber nicht nur die Kinder mit großer Spannung folgten.
Ute Schalz-Laurenze
Weitere Aufführungen im November: 8. und 9. um 20 Uhr, 17. und 30.11. um 19.30 Uhr. Karten unter Tel. (0471) 48 20 60
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen