: Vergattert
Hinter Gittern und Gräben steht das Zootier. Ein traurig schöner Bildband zeigt die Enge
von ANDREAS HERGETH
Als Kind bin ich gern in den Zoo gegangen. Der nächstgelegene war in Schwerin zu finden. Mindestes einmal im Jahr schaute man entweder im Familienverband oder als Kindergartenkind und später an Wandertagen vorbei. Wirklich viel hatte der relativ kleine Zoo, 1956 als Heimattiergarten gegründet, eigentlich nicht zu bieten. Aber für ein Kind reichen ein paar richtige Tiger, Zebras, Affen, Bären, Giraffen, Stachelschweine und ein Löwenpärchen, um verzaubert zu sein.
Mehr als die beiden Raubtiere faszinierte mich jedoch ein Hinweisschild, das an den dicken Gitterstäben des klein wirkenden Käfigs hing und vor dem Löwenmännchen warnte, das angeblich ab und an einfach im weiten Bogen durch die Gitterstäbe pisste. Wahrscheinlich aus zweifachem Protest: Wer will sich schon ständig angaffen lassen? Wer will sein Leben auf ein paar Metern Beton, umgeben von Mauern und Gittern, verbringen? Ich habe die Löwen noch vor Augen: Wenn sie nicht vor sich hin dösend am Boden lagen, liefen sie unaufhörlich auf und ab, immer ein paar Meter nach links, dann nach rechts und immer so fort.
Vor zwei Jahren war ich wieder einmal im Schweriner Zoo, weil ich eine Geschichte über die beiden Breitmaulnashörner schrieb. Das Pärchen war 1980 aus den USA nach Mecklenburg gekommen. Willi und „die Dicke“ waren damals gerade mal ein dreiviertel Jahr alt und sind heute im besten Alter, um Nachwuchs zu zeugen. Doch die beiden haben keinen Bock auf Lust. Was trotz genug Auslauf, künstlicher Befruchtung und „Liebesfahrten“ des Weibchens in andere Zoos sicher darauf zurückzuführen ist, dass die beiden Nashörner in dieser für sie unnatürlichen Umgebung einfach keine Nashornbabys in die Welt setzen wollen. Denn Tiere fühlen und haben eine Seele. Auch wenn das wahrscheinlich alle Zoofachleute dieser Welt ad absurdum führen könnten. Dennoch gelten heute viel zu kleine Beton- und Gitterboxen in Zoos und Tierparks als nicht mehr zeit- und artgerecht.
In Schwerin zum Beispiel hat man den Bären und Löwen (und demnächst auch den Tigern) nach der Wende bis zu zweitausend Quadratmeter große Waldflächen angelegt, in denen die Tiere Bäume, Sträucher, Stubben, Felsen, Wasserläufe, sonnige wie geschützte Liegeflächen sowie Anhöhen und Senken und auch Rückzugsmöglichkeiten finden.
Andere Tiere haben Pech und hausen weiter in kleinen Gehegen. Überall. Auch im Tierpark Berlin – mit 160 Hektar ein Landschaftstierpark ohnegleichen, in dem Wisente, Kamele und andere Tiere scheinbar völlig frei auf riesigen Freiflächen grasen – sperrt man Tiere, vor allem die Raubtiere und die Affen, in gekachelte und vergitterte Verließe. Die jährlich über eine Million Besucher scheint dies nicht zu stören. Sind ja nur Tiere. Insgesamt rund zehntausend in über tausend Arten. Im Zoologischen Garten der Hauptstadt leben gar rund fünfzehntausend Tiere in etwa tausendfünfhundert Arten. Hier gehen pro Jahr rund drei Millionen Menschen ein und aus.
„In keiner Weltstadt kann man sich durch eigene Beobachtungen einen derart umfangreichen Überblick über die Fauna unserer Erde aneignen wie in Berlin“, wird im Internet auf den Tierparkseiten geworben. Um zu sehen, zu welchem Preis sich der Mensch exotische Tiere hält, braucht man nicht extra nach Berlin oder Schwerin zu fahren. Jeder große Zoo, jeder kleine Tierpark bietet trauriges „Anschauungsmaterial“ zuhauf. In Deutschland wie ganz Europa.
In zahlreichen Einrichtungen des Kontinents hat Dominic Davies für seinen Bildband „To Cage“ („Einsperren“) über vier Jahre hinweg fotografiert. Der 34-jährige Londoner hat dabei seine großformatige Plattenkamera auf die künstlichen, der Natur nachempfundenen Räume und ihre verzerrten Maßstäbe gerichtet. Sein virtuoser Umgang vor allem mit Schärfe und Unschärfe sowie sein Blick für die inszenierte Wirklichkeit, wie man sie in allen Zoos vorfindet, führen zu verstörenden, häufig auch schaurig schönen Bildergebnissen.
Die Bewohner der Zoos werden als das, was sie sind, gezeigt: lebendige Trophäen, ausschließlich auf die Rolle eines visuellen Konsumproduktes beschränkt, ihrer Freiheit, natürlichen Umwelt und Würde beraubt. Auf beunruhigende Weise führt Dominic Davies dem Betrachter das Verhältnis von Mensch und Natur vor Augen. Seine Studie über den Lebensraum von Tieren in europäischen Zoos regt zum Nachdenken an, wird doch offenbar, wie erbärmlich immer noch viel zu viele Tiere in miserablen Gehegen dahinvegetieren müssen.
Ein Bär sitzt inmitten einer kleinen Betonwüste. Ein Baumstamm und ein paar Holzstücke nebst Wasserloch ist alles an „Natur“, was Mensch dem zotteligen Tier zu bieten hat. Hohe, übertünchte Ziegelmauern auf der einen, ein tiefer, abgesperrter Graben auf der anderen Seite. Der Braunton verstärkt den deprimierenden Charakter des Bildes.
Wohl die Mehrzahl der fünf Millionen Hunde und sechs Millionen Katzen in deutschen Haushalten leben besser, zumindest in keiner viel zu kleinen Beton- oder Keramikbox mit dröger Staffage als Naturimitat. Davon ist in „To Cage“ mehr als genug zu sehen. Gehege mit nichts weiter als ein paar Baumstämmen und Steinen. Völlig nackte, bis auf den sandigen Boden leere Gehege. Steinwüsten für Pinguine. Abgestorbene Palmen. Betonsäulen als Kletterwand, ein paar alte Autoreifen, Strippen und Laub als Spielzeug für Affen. Neonröhren und Steine für Reptilien. Gähnende Leere für Giraffen.
Auf einem Bild ist ein Gorillababy zu sehen. Es liegt im Gras auf dem Rücken, eine Hand vor den Kopf geschlagen. Als wollte es mit einer Geste zeigen, wie skandalös der Mensch mit Zootieren umgeht. Auch wenn in Zoos bedrohte Arten vom Aussterben gerettet werden – keine Tierparks, keine eingesperrten Tiere wären die Alternative. Ich kann Zoos nicht mehr ausstehen.
Dominic Davies: „To Cage“, Kruse-Verlag, Hamburg 2001, 128 Seiten, 50 Farbtafeln, 98 MarkANDREAS HERGETH, 34, lebt als freier Autor in Berlin
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