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Archiv-Artikel

VORGETÄUSCHTER MUT UND DIE KENNTNIS DES EIGENEN INNENRAUMS Im Club der Renegaten

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VON ARAM LINTZEL

Dass Bekenntnis und Erkenntnis zwei Register sind, die meist kaum weiter auseinanderliegen könnten, weiß jeder seriöse Authentizitätskritiker. Es gibt allerdings Leute, die immer noch behaupten, dass wenn sie etwas ,loswerden‘, käme dabei nichts als die Wahrheit zum Vorschein. Der Spiegel-Autor Reinhard Mohr inszeniert beflissen diesen Bekenntnisdrang: Sein neues Buch trägt den Titel „Bin ich jetzt reaktionär? Bekenntnisse eines Altlinken“.

Wie Jan Fleischhauer oder auch Götz Aly vor ihm versucht sich der Exlinke Mohr an einem Update der Renegatenliteratur. Geschwätzig erklärt er der Welt, weshalb nun endlich mit all den „linken Lebenslügen“ aufzuräumen sei. Was sich hier als gefährliches Denken geriert, bleibt de facto immer schön in der Komfortzone: Ich habe erlebt, ich habe gelernt, jetzt bin ich geläutert!

Tatsächlich bringt die Introspektion des Neo-Renegaten nichts Neues hervor, da Mohr Mut nur vortäuscht und immer schon weiß, was im eigenen Innenraum vorzufinden ist. So wird jener typische „Mythos der intellektuellen und der moralischen Einsicht“ bedient, den Michael Rohrwasser einst in seinem Buch „Der Stalinismus und die Renegaten“ ausmachte.

Neutrale Wirklichkeit?

Nun könnte man den Neo-Renegaten strategisch gut finden und für einen sympathisch unzeitgemäßen Zeitgenossen halten, weil er immerhin noch an ideologische Fronten glaubt. Interessant sind solche Figuren wie Mohr aber, weil sie als Populisten des Postideologischen ihren Leserinnen und Lesern Realitätssinn einbläuen wollen. „Wirklichkeit“ und „Realität“ sind denn auch absolute Lieblingswörter von Mohr. Sein Programm erklärt er so: „Kurzum, es geht um den immer wieder neuen Blick auf das, was wir ,Wirklichkeit‘ nennen. Ein sehr persönliches Plädoyer für das – manchmal schmerzhafte Selberdenken. Für ein Leben, das sich von der Realität immer wieder irritieren lässt.“

Die von Linken angeblich verleugnete Realität besteht für Mohr aus der „Abschottung einer islamisch geprägten türkisch-arabischstämmigen Unterschicht in deutschen Großstädten“, aus dem „unglaublichen Chaos der staatlichen Verwaltung“ in „südlichen Krisenländern“ etc. Die Linken würden dieser Realität nicht gerecht, weil sie nur mit Reflexen reagieren könnten, sobald es um Asylbewerber, Geld, Ökologie usw. geht.

Schuld an der Realitätsverleugnung ist übrigens einmal mehr der Feminismus. Die radikalfeministische Theorie habe alles zu sozialen Konstruktionen erklärt, so Mohr. Rückfrage: Was ist die „Unterschicht“ anderes als eine soziale Konstruktion? Etwa reine Natur? Jedenfalls ist es die unhinterfragbare Realität selbst, die Mohr zur inneren Umkehr nötigt. Und als postideologisches Subjekt verbrämt er diesen Sachzwang als „Selberdenken“, sodass er sich wie ein Freigeist und Querdenker fühlen darf. Die antidemokratischen Konsequenzen seines Realitätsfetischismus verschleiert Mohr dabei komplett.

Wenn „die Wirklichkeit“ keiner Auslegung mehr bedarf, dann wird der politische Streit über das richtige Leben überflüssig; dann braucht es nur noch Experten, die ‚ideologiefrei‘ auf die Realität schauen und verkünden, was zu tun ist. Neutral und selbsterklärend ist diese Wirklichkeit aber natürlich nicht; sie ist eine autoritäre Setzung, die den demokratischen Widerstreit stilllegt. Dazu passt, dass Mohr selbst den Zweifel dem postdemokratischen Sachzwang unterwirft. Gezweifelt wird nicht mehr an der Realität, sondern im Namen derselben. Nur leider, so Mohr, gelte aber „eine pragmatisch-skeptische Einstellung als rechts, reaktionär oder gar rassistisch“.

Mohr gefällt sich in der dankbaren Rolle des Aufrüttlers. Ob sich von seinen Spotttiraden gegen alles „Linke“ ernsthaft jemand ertappt fühlt? Statt mit Argumenten arbeiten Profiabtrünnige wie Mohr mit Wohlfühlstimuli für die längst Bekehrten. Die angeblichen Freigeister bewegen sich keineswegs im Offenen, sie sind Teil eines selbstreferenziellen Systems des Sichtollfindens.

Es passt ins Bild, dass Henryk M. Broder ein begeistertes Nachwort geschrieben hat, das genauso pubertär mit der eigenen Umwälzung zum Reaktionär kokettiert. „Welcome to the Club, Reinhard!“, sind Broders letzte Worte. Im Club der Renegaten will man unter sich bleiben, denn draußen lauern nur irre Linke.

■ Aram Lintzel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Grünen-Bundestagsfraktion und freier Publizist in Berlin